«Mit der Kulturpolitik arbeiten wir an der DNA der Schweiz»
Seit rund einem Jahr ist Carine Bachmann Direktorin des Bundesamts für Kultur. Nun stellt sie die Weichen für die Kulturpolitik des Bundes neu. Dazu gehört auch ein stärkeres internationales Engagement der Schweiz.
Sie ist das neue Gesicht des Bundesamts für Kultur, die Genferin Carine Bachmann. Seit dem 1. Februar 2022 ist sie im Amt und hat in den letzten Monaten intensiv an den politischen Strategien zur Kulturförderung gefeilt, welche nun in der «Kulturbotschaft» festgeschrieben sind. Bachmann wuchs in Japan und in der Schweiz auf, studierte in Zürich Psychologie, Filmwissenschaften und Völkerrecht, bevor es sie nach Genf zog.
Vor ihrem Stellenwechsel nach Bern arbeitete sie in verschiedenen Rollen im Kulturbetrieb, etwa als Programmverantwortliche für das internationale Film- und Videofestival VIPER in Luzern.
Mit Kulturpolitik kennt sich Corinne Bachmann aus. Schliesslich leitete sie während mehr als zehn Jahren die Kulturabteilung der Stadt Genf, wo sie für die Museen, Bibliotheken und die Kulturförderung zuständig war.
SWI swissinfo.ch: Frau Bachmann, in einem Satz, was verstehen Sie unter guter Kultur?
Carine Bachmann: Kultur richtet sich nicht nur an eine Elite, sondern an die ganze Gesellschaft, uns alle individuell als Menschen.
Das müssen Sie nun doch etwas genauer erklären.
Wir sind ein Land mit vier Sprachen und vier nationalen Kulturen. Der erforderliche Umgang mit unterschiedlichen Kulturen, mit sprachlichen Minderheiten und Mehrheiten hat unser ganzes politisches System geprägt.
Wir leben in einem Land, das im zweiten Artikel der Verfassung festschreibt, dass der Bund die kulturelle Vielfalt in der Schweiz fördern soll. Das finde ich faszinierend.
Und was heisst das nun für die Rolle des Bundesamts für Kultur? Dieser breite Kulturbegriff klingt nach ein bisschen Allem und Nichts gleichzeitig.
Das ist vor allem ein bisschen Alles, und das war eine der tollen Überraschungen, als ich hier in Bern angefangen habe, dieser sehr breite Aufgabenbereich, der über die Qualität des Gebauten im Sinne der Baukultur bis hin zur Amateur:innenkultur oder zur Unterstützung des Films reicht. Hier arbeiten wir eigentlich an der DNA der Schweiz.
Was, würden Sie denn sagen, ist unsere DNA?
Neben unserer Erfahrung im Umgang mit kultureller Vielfalt sind wir ein Land, das stark geprägt ist durch ein sehr aktives und dichtes Vereinswesen, auch in der Kultur. Und dann sind wir auch ein Land, das keine Rohstoffe hat. Wir sind auf Innovation und Kreativität angewiesen.
Und was bedeutet dies für die schweizerische Kulturpolitik?
Wir möchten die kulturelle Teilhabe vorantreiben, über Amateur:innenkultur, aber nicht nur. Auch die Förderung von Innovation und Kreation ist unheimlich wichtig wie auch der soziale Zusammenhalt, der in der Schweiz nur über den Respekt vor den Unterschieden hergestellt werden kann.
Was steht in der neuen Kulturbotschaft?
Das Bundesamt für Kultur (BAK), die Kulturstiftung Pro Helvetia und das Schweizerische Nationalmuseum richten in der so genannten Kulturbotschaft für die Periode 2025-2028 die Schwerpunkte ihrer Tätigkeit neu aus. Dazu haben sie sechs Handlungsfelder definiert:
- Kultur als Arbeitswelt: Beitrag zur angemessenen Entschädigung und sozialen Sicherheit professioneller Kulturschaffender und Chancengleichheit im Kultursektor
- Aktualisierung der Kulturförderung: stärkere Berücksichtigung der Arbeitsphasen, welche der Produktion vor- und nachgelagert sind
- Digitale Transformation in der Kultur: Berücksichtigung von neuen digitalen und hybriden Formaten der Produktion, Verbreitung und Vermittlung
- Kultur als Dimension der Nachhaltigkeit: Strategie für eine hohe Baukultur und Massnahmen zur Unterstützung der Nachhaltigkeit im Kultursektor
- Kulturerbe als lebendiges Gedächtnis: Wertschätzung und Vermittlung des materiellen, immateriellen und digitalen Kulturerbes der Schweiz und Förderung des professionellen und ethischen Umgangs mit historisch belastetem Kulturerbe
- Gouvernanz im Kulturbereich: mehr Kooperation und Koordination im Kulturbereich, starke Präsenz der Schweiz in der internationalen Kulturpolitik
Die Kulturbotschaft ist bis zum 22. September 2023 bei den Kantonen, Parteien und Verbänden in Vernehmlassung, bevor sie im Parlament beraten und definitiv beschlossen wird.
Ein Thema, das in Kulturkreisen stark diskutiert wird: 90% der rund 2,5 Milliarden Franken staatlicher Kulturgelder sind fixe Subventionen für Kulturhäuser – welche aber bloss zwischen 10-20% der Bevölkerung aktiv nutzen. Wie geht das zusammen mit ihrem Anspruch, möglichst viele Menschen an der Kultur teilhaben zu lassen?
Es stimmt, dass viel Geld in die klassischen Kulturinstitutionen geht. Aber die Institutionen sind daran, sich zu öffnen und geben der Gesellschaft sehr viel zurück.
Ich finde es unheimlich wichtig, dass sie mit den Kunst- und Kulturschaffenden der unabhängigen Szene zusammenarbeiten. Kulturinstitutionen und freie Szene müssen sich gegenseitig befruchten. Das ist absolut fundamental.
Haben Sie ein Beispiel für ein solches Wechselspiel?
Wenn zum Beispiel ein Museum Künstler:innen einlädt, eine Ausstellung aus der bestehenden Sammlung zu kuratieren. Also Kunstgegenstände, die dem Museum aus der Vergangenheit hinterlassen wurden, aus zeitgenössischer Perspektive neu zu beleuchten.
Und auf einmal ziehen diese Museen ein ganz anderes Publikum an. Das ist ein Effort, den viele Museen der Schweiz heute machen und so Objekte aus der Vergangenheit neu interpretieren.
Wenn man Geld ausgibt, will man dafür einen Wert sehen. Wie lässt sich der Wert der Kultur für die Menschen messen?
Ich glaube, den Wert konnten wir relativ gut erkennen in der Covid-Pandemie. Wenn man etwas nicht mehr hat, dann wird allen plötzlich bewusst, was einem fehlt. Während der Pandemie hat die Gesellschaft gemerkt, wie sich das Leben anfühlt, wenn man keine Kultur mehr hat.
Kultur kann man nicht nur an Publikumszahlen oder am Beitrag an die soziale Kohäsion oder am wirtschaftlichen Wert bemessen. Kultur hat einen eigenständigen Wert für die Gesellschaft.
Und wie wollen diesen gesellschaftlichen Wert der Kultur ausweisen?
Neu wollen wir besser aufzeigen, dass die Kultur ein eigenständiger Sektor ist. Fünf Prozent der erwerbstätigen Bevölkerung arbeitet im Kultursektor, 2.1% unseres Bruttoinlandsprodukts kommt von der Kultur. Das sind 270’000 Menschen und 70’000 Unternehmen.
Wir wollen nun besser beschreiben, wie sich dieser Kultursektor auch quantitativ entwickelt. Und deshalb sprechen wir auch über Statistiken, Indikatoren und Kennzahlen in der neuen Kulturbotschaft.
In der neuen Kulturbotschaft steht auch, dass Sie die Präsenz der Schweiz in der internationalen Kulturpolitik verstärken wollen. Wie wollen Sie dies anstellen?
Die Kultur leidet unter der Isolation der Schweiz. Etwa, dass wir seit 2014 nicht mehr im «Creative Europe»-Programm (Kultur-Förderprogramm der Europäischen Union) dabei sein können. Wir haben zwar für den Filmbereich finanzielle Ersatzmassnahmen, welche ganz gut funktionieren.
Aber wir dürfen nie vergessen: Kultur ist international vernetzt und diese Vernetzung brauchen wir auch, um die Schweizer Kultur zu stärken. Insofern versuchen wir, diese Vernetzung über alle Wege herzustellen, die uns offenstehen.
Wir engagieren uns zum Beispiel stark bei der Unesco, wir versuchen auch beim Europarat die Kultur zu stärken und pflegen Kontakte auf Fachebene. Wir wollen aufzeigen, dass die Schweiz in der internationalen Kulturpolitik etwas zu sagen hat.
Was hat die Schweiz denn auf dem internationalen Parkett zu sagen?
Da sind wir wieder bei dieser DNA. Die Spezifitäten der Schweiz sind sehr wichtig in der heutigen Welt, auch im internationalen Kontext. Wir haben uns etwa stark engagiert nach dem russischen Angriff auf die Ukraine.
Da haben wir schnell reagiert und mit den ukrainischen Museen Kontakt aufgenommen über den Verband der Museen Schweiz (VMS).
Das Bundesamt für Kultur ist zudem sehr aktiv im Bereich Raubkunst, aber auch bei Kunst aus kolonialen Kontexten und versucht jetzt die Beziehungen zu den afrikanischen Ländern zu stärken. Das Engagement der Schweiz in der internationalen Kultur wurde sehr lange unterschätzt und wir versuchen dieses nun stärker zu profilieren.
Das Bundesamt für Kultur möchte die Schaffung einer schweizerischen Plattform für Forschungsergebnisse zur Herkunft von Raubkunstbeständen aus den Zeiten der Nazi-Herrschaft und aus der Kolonialzeit in öffentlichen und privaten Sammlungen unterstützen. Ist damit das Problem wirklich gelöst? Am Schluss zählt doch, welche Taten man den Forschungsergebnissen folgen lässt?
Wir arbeiten aktiv an diesen Fragen. Provenienzforschung ist wichtig, eine transparente Publikation der Forschungsergebnisse spielt dabei eine zentrale Rolle. Die von Ihnen erwähnte Plattform bildet hierbei einen bedeutenden Schritt.
Es geht allerdings bei diesen Fragen nicht nur um Provenienzforschung im engen Sinn, sondern ebenso um den Dialog mit den betroffenen Ländern oder Bevölkerungsgruppen. Letztlich macht man diese Forschung ja, um dann auch gerechte und faire Lösungen zu finden.
Deswegen wurde unser Amt vom Bundesrat beauftragt, auch eine Expert:innenkommission auf die Beine zu stellen analog zu anderen Ländern, die bei strittigen Fragen hinzugezogen werden kann. Die Expert:innenkommission wird einen Beitrag dazu leisten, um – wie Sie richtig sagen – den Forschungsergebnissen Taten folgen zu lassen. Die Restitution von Objekten ist dabei eine mögliche Antwort, aber bei weitem nicht die einzige.
Woran denken Sie da?
Das können gemeinsame Ausstellungsprojekte in der Schweiz, aber auch Konferenzen oder Vermittlungsarbeiten im Land selber sein. Da gibt es viele spannende Sachen, die schlussendlich auch dem Schweizer Publikum in unseren Museen etwas bringen, weil dann neue Inhalte kommen, neue Perspektiven auch auf unsere Kulturgüter, die wir in der Schweiz haben.
Das klingt sehr positiv. Gerade für kleinere Museen können solche Abklärungen zur Herkunft von Kunstwerken sehr belastend sein.
Das stimmt. Für die kleineren Museen in der Schweiz ist das eine neue Aufgabe und bringt sie zum Teil in Ressourcenprobleme. Deshalb geben wir ihnen Unterstützung.
Mir liegt aber sehr am Herzen, dass solche Themen nicht nur als etwas Negatives und Belastendes angeschaut werden für ein Land, sondern auch unseren Wissenshorizont erweitern und unsere internationalen Kontakte aufwertet.
Daraus ergeben sich sehr viele Geschichten, bei denen man über ein belastendes Kulturerbe letztlich wertvolle internationale Beziehungen aufbauen kann.
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