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Mit fremden Wurzeln in der Schweiz

Die Regisseurin Andrea Staka beim Interview in Locarno. swissinfo.ch

"Das Fräulein" von Andrea Staka, der einzige Schweizer Film im internationalen Wettbewerb, holt in Locarno den Goldenen Leoparden.

swissinfo hat mit der Regisseurin über ihre Wurzeln, unabhängige Frauen und ein Leben zwischen den Kulturen gesprochen.

Rusa zieht ihren Wintermantel an und reisst am Gürtel, als müsste sie ihn noch immer enger schnallen, wie damals vor 25 Jahren, als sie aus Belgrad in die Schweiz kam und bei Null anfangen musste. Dabei hat sie es geschafft, führt ihr eigenes Restaurant in Zürich mit strenger Hand, zählt jeden Abend das eingenommene Geld und gönnt sich kein Lächeln.

In ihrem ersten langen Spielfilm «Das Fräulein» bringt die 32-jährige Zürcher Filmemacherin Andrea Staka Frauen mit unterschiedlichen Emigranten-Schicksalen zusammen. Die junge Bosnierin Ana, voll Lebenslust und dabei todkrank, bildet den Gegenpart zur selbstkontrollierten Rusa und bringt mit ihrer impulsiven Art die Geschichte ins Laufen.

Andrea Staka hat bereits vor einigen Jahren mit «Hotel Belgrad» einen aufsehenerregenden Kurzfilm über eine Liebesnacht in Belgrad realisiert. «Das Fräulein» ist als einzige Schweizer Produktion im Wettbewerb des Festivals vertreten.

swissinfo: Sie sind in der Schweiz geboren und aufgewachsen und machen Filme über Emigrantinnen aus Ex-Jugoslawien. Was für ein Verhältnis haben Sie zu Ihren Wurzeln?

Andrea Staka: Ich bin durch meine Eltern mit Ex-Jugoslawien verbunden. Meine Mutter kommt aus Bosnien, mein Vater aus Kroatien.

Während meiner Kindheit war die Schweiz für mich das Land der Schule und des Alltags, während Jugoslawien das Land der Ferien war. Ich bin zweimal im Jahr hingefahren, im Sommer fünf Wochen zur Familie meines Vaters nach Dubrovnik ans Meer, und im Herbst zwei Wochen nach Sarajevo.

swissinfo: Inwiefern fühlen Sie sich als Schweizerin?

A.S.: Das hat sich im Verlauf der Zeit verändert. Heute fühle ich mich tatsächlich als Schweizerin. Früher war das anders, als ich noch zur Schule ging. Als Seconda, also als Tochter von Einwanderern, war ich die Jugoslawin in der Klasse.

Inzwischen sind so viele Menschen aus verschiedenen Ländern in die Schweiz gekommen, dass es selbstverständlich geworden ist, dass man mit mehreren Kulturen dennoch Schweizer sein kann.

swissinfo: Sie zeigen in Ihrem Film unterschiedliche Ansätze, sich auf ein neues Land einzulassen. Welches ist Ihr eigener Ansatz?

A.S: Ich lebe heute in Zürich und New York. Doch ich bin nicht emigriert oder geflüchtet wie die Figuren in meinem Film, sondern habe New York als Zweitheimat gewählt, weil dort viele Menschen aus ganz verschiedenen Ländern und Kulturen leben.

Meine Identität ist nicht nur an eine einzige Kultur gebunden.

swissinfo: Die drei Emigrantinnen in ihrem Film bleiben trotz ihrer Freundschaft letztlich einsam. Warum?

A.S.: Ich glaube, dass jeder und jede allein seinen oder ihren Weg gehen muss und letztlich sehr einsam ist. Es geht darum, sich auf diesem einsamen Weg die Hand zu reichen.

Deshalb ist der Film für mich in erster Linie ein Film über Frauen-Sensibilität und Frauen-Solidarität.

swissinfo: Sie leben in Zürich und New York, Ihre Filme sind in Belgrad und Zürich angesiedelt. Welche Rolle spielen Städte in Ihrem Leben und Ihrer künstlerischen Arbeit?

A.S.: Städte sind meine Lebensräume. Ich wohne seit eh und je in Städten, liebe sie und hasse sie manchmal auch. Zu Zürich pflege ich eine wunderbare Hassliebe, ich finde es eine sehr schöne und idyllische Stadt, die aber auch befremdend und kalt sein kann. Der urbane Lebensraum ist modern.

Da kommen viele Menschen aus den verschiedensten Kulturen zusammen. Obwohl man dort anonym leben kann, bekommt man doch viel voneinander mit, weil man auf engem Raum zusammen ist.

swissinfo: Sie haben eine bosnische Mutter und einen kroatischen Vater. Den Balkan-Krieg haben Sie von der Schweiz aus mitverfolgt. Was hat das bei Ihnen ausgelöst?

A.S.: Einerseits einen grossen Schmerz, weil es meiner Familie dort sehr schlecht ging. Ich habe mich auch ohnmächtig gefühlt, weil die Menschen, die mir am meisten bedeuteten, so leiden mussten.

Durch den Krieg hat meine Kindheit einen Bruch erlitten, weil dieses Land, das ich so liebte, plötzlich zum Land des Grauens und der Brutalität geworden war.

Dies hat das Bedürfnis bei mir ausgelöst, Geschichten jenseits des Kriegs zu erzählen, Liebesgeschichten, Tragödien, Komödien, Alltag.

swissinfo-Interview: Susanne Schanda, Locarno

Die Schweiz ist am diesjährigen Filmfestival stark vertreten: Mit einem Tag für den Schweizer Film, der Sektion «Appellation Suisse», Retrospektiven und der Präsentation von mehreren Schweizer Filmen auf der Piazza Grande.

Die Produktion von Schweizer Filmen hat in den letzten 10 Jahren markant zugenommen. Die Zahl der Kinofilme stieg von 37 auf 61 pro Jahr, die Zahl der Fernsehfilme von 55 auf 134 und die Zahl der Kurzfilme von 159 auf 278.

Dennoch ist der Erfolg im Kino und damit der Marktanteil des Schweizer Films konstant tief zwischen 1% und 3%.

Das Internationale Filmfestival Locarno dauert noch bis 12. August.
Im Wettbewerb um den Goldenen Leoparden stehen 21 Filme aus 15 Ländern.
«Das Fräulein» von Andrea Staka ist der einzige Schweizer Beitrag im internationalen Wettbewerb.
Ab November 2006 läuft der Film in den Schweizer Kinos.

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