Stilmix, Stars und Spontaneität als Erfolgsrezept
Mathieu Jaton kennt die Mechanismen des Montreux Jazzfestivals von Grund auf. Als CEO könne und wolle er dem renommierten Event nicht einen eigenen Stempel aufdrücken, sondern vielmehr dessen Geist aufrecht erhalten, sagt der Nachfolger von Festivalgründer Claude Nobs.
Mathieu Jaton war 18 Jahre jung, als ihn Claude Nobs als Helfer engagierte. 1999, nach dem Abschluss der Hotelfachschule Lausanne, wurde Jaton Verantwortlicher für Marketing und Sponsoring, 2011 Generalsekretär des Festivals und vor einigen Jahren beauftragte ihn Nobs mit der operativen Leitung.
Claude Nobs, der das Festival 1967 gegründet und zu einem Anlass von weltweiter Bedeutung aufgebaut hatte, blieb bis zu seinem Tod im vergangenen Januar dessen Spiritus Rector.
Jetzt ist Jaton 38 und CEO eines Unternehmens mit 25 Vollzeitangestellten, zu denen während des Festivals mehr als 1000 weitere Angestellte und freiwillige Helfer kommen. Das Jahresbudget beträgt 25 Mio. Franken.
Spontaneität weiter pflegen
Nobs als Chef zu ertragen war anspruchsvoll. Er verlangte absolute Loyalität, wie viele seiner ehemaligen Mitarbeiter erzählen. Dass, wer heute in New York, Tokio oder Berlin «Montreux» sagt, das Jazzfestival meint und nicht den idyllisch am Genfersee gelegenen und verschlafenen Kurort, das ist das Verdienst von Claude Nobs.
Dass er nun das Lebenswerk seines charismatischen Mentors weiterführen darf und muss, nimmt Mathieu Jaton – Manager und Pragmatiker – gelassen. «Eine Handschrift – egal ob Jaton oder Nobs – zu entwickeln, das ist extrem schwierig», sagt er auf die Frage, in welche musikalische Richtung er das Festival künftig positionieren wolle.
«Die Handschrift ‹Montreux›, die ich verteidige, heisst Qualität. Wir müssen die besten Bedingungen für die Künstler schaffen, die dazu führen, dass Leute wie David Bowie vier Stunden länger spielen als in einem normalen Konzert. Die Montreux-Kultur, das ist das Unabsehbare, die Improvisation, das sind die spontanen Begegnungen, die Jam-Sessions.»
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Abseits der grossen Scheinwerfer
48 Konzertabende
Vollmundige Worthülsen über die künstlerische Ausrichtung des Festivals sind Jatons Sache nicht. «Wir schauen, wer verfügbar ist und zu Montreux passt. Die Medien sehen in unserer Programmation jeweils lauter Konzepte und Strategien. Wir sind jedoch überhaupt nicht in einer solchen Welt.»
Die pragmatische Haltung hat Gründe: Das Festival bespielt während 16 Tagen täglich drei verschieden grosse Säle, deren Programme sich stilistisch voneinander unterscheiden. Das ergibt 48 verschiedene Konzertabende, die allesamt verkauft werden müssen.
Damit habe Montreux eine andere Ausgangslage, als die meisten europäischen Festivals, die in der Regel draussen stattfinden, weit weniger lange dauern und pro Tag einen bis zwei Stars programmierten, darum herum weniger bekannte Gruppen platzierten. «Bei den Open-Airs kauft das Publikum ein Ambiente, bei uns kauft es ein Konzert eines Künstlers», sagt Jaton.
Die Sammlung von Audio- und Videobändern des Montreux Jazz Festivals – «The Claude Nobs Legacy» – ist in das Dokumentenerbe der UNESCO aufgenommen worden.
Es ist erst der zweite Schweizer Beitrag auf der Liste nach den Manuskripten von Jean-Jacques Rousseau.
Das Vermächtnis von Claude Nobs umfasst 10’000 Tonbänder mit mehr als 5000 Stunden Konzertaufnahmen, die seit der Gründung des Festivals 1967 gemacht wurden.
Darunter sind einmalige Aufnahmen, beispielsweise von Miles Davis› allerletztem Auftritt von 1991. Claude Nobs hat die Bänder noch zu Lebzeiten bei der UNESCO eingereicht.
Zusammen mit dem Montreux-Legat sind dieses Jahr unter anderem die Himmelsscheibe von Nebra, die Schriften von und über Che Guevara und die Sammlung der Holocaust-Zeugenaussagen von Yad Vashem in das Dokumentenerbe aufgenommen worden.
Alle zwei Jahre kann jedes UNESCO-Mitglied zwei Vorschläge zur Aufnahme in das «Gedächtnis der Menschheit» einreichen. Es umfasst nun 299 Einträge.
Zurück zu den Wurzeln
Grundsätzlich besteht Montreux 2013 – nebst den Gratis-Konzerten unter freiem Himmel – aus drei Programmschienen in drei Sälen. Im grossen Saal treten die Stars auf, der mittlere, das Montreux Jazz Lab, gehört den Entdeckungen in den Bereichen Electronica, Pop und Rock und im lediglich 350 Plätze umfassenden Jazz Club treten bekannte und weniger bekannte Jazz- und Bluesmusiker auf.
Bisher bestand Montreux aus zwei gleichwertigen Konzertreihen (Stravinski Hall und Miles Davies Hall) und dem Lab mit den Newcomern. Mit der Ausgabe 2013 gehört die Miles Davis Hall der Vergangenheit an.
Mit dem kleineren Jazz Club kehrt das Festival zu seinen Jazzwurzeln zurück. Gleichzeitig ist der Druck kleiner geworden, täglich zwei grosse Säle zu füllen. «Der Jazz Club, das war meine Idee. Ich habe den Wechsel noch mit Claude besprochen und wir haben uns zusammen dafür entschieden», erzählt Jaton.
«Damit haben wir eine grössere Flexibilität, um junge oder weniger bekannte Musiker vorzustellen. Die gingen in den grossen Sälen manchmal etwas unter und wurden nicht genügend wahrgenommen.»
Daneben treten dieses Jahr im Club auch Stars auf wie George Benson, David Sanborn oder Charles Lloyd, der 1967 – am ersten Montreux Jazzfestival überhaupt – zusammen mit einem damals 22-jährigen Pianisten namens Keith Jarrett eine grosse Attraktion war.
Dass viele Musiker und Musikerinnen zum Teil seit Jahrzehnten regelmässig nach Montreux kommen, sei «kein Konzept», sagt Jaton. «Es ist ganz klar: Konzepte beschränken sich auf die Musiker, die jeweils auf Tournee sind. Sie können nicht einen Künstler programmieren, der nicht auf Tournee ist. Ich kann beispielsweise nicht sagen, ‹Ich will Herbie Hancock oder David Bowie›. Wenn die nicht auf Tournee sind, funktioniert das nicht.»
Prince wollte alle drei
Seit Jahren beschäftigt Montreux sechs Programmgestalterinnen und Programmgestalter. Claude Nobs war zuständig für die speziellen Projekte, die Koordination und den generellen Überblick. Nun ist Mathieu Jaton dafür zuständig.
«Sehr wichtig ist, dass wir nicht drei Gruppen desselben Stils am gleichen Abend in den drei verschiedenen Sälen programmieren. Das würde das Publikum kannibalisieren. Zusätzlich müssen die einzelnen Abende eine gewisse Kohärenz, eine Geschichte haben, wie beispielsweise das Konzert mit Bobby Womack und Wyclef Jean. Da werden nacheinander zwei Generationen der schwarzen Musik auf der Bühne stehen.»
Einst war Montreux das einzige grosse Sommerfestival in der Schweiz. Mittlerweile gibt es rund 400, die um Publikum und Publikumsattraktionen buhlen. Dank seinem legendären Ruf hat Montreux den Vorteil, dass es viele Musiker gibt, die auf ihren Tourneen unbedingt hier auftreten wollen. So erhielt Jaton im Februar einen Anruf vom Management von Prince. «Wir haben drei mögliche Daten vorgeschlagen. Er hat gesagt, er wolle alle drei Daten.»
Die drei Konzerte des Stars sind seit Wochen ausverkauft. Dasselbe gilt für die meisten andern Abende des Festivals. Selten lief der Vorverkauf für das Festival so gut wie dieses Jahr – Jaton hat damit die Nachfolge von Claude Nobs erfolgreich angetreten.
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