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Müssen Politiker lügen und Autoren intervenieren?

Solothurn und Literatur - am Auffahrtswochenende immer ein unzertrennliches Paar. Keystone

Während an den Solothurner Literaturtagen die einen debattierten, ob sich Schreibende als "Gewissen der Nation" politisch stärker engagieren sollten, machten andere "nur" eines: Sie erzählten!

Drei Tage Literatur, farbig, abwechslungsreich, verschieden, eine weite Bandbreite vom Debütanten bis zum Politprofi, kennzeichneten die diesjährigen 30. Solothurner Literaturtage. Rund 10’000 Eintritte an die rund 70 Veranstaltungen wurden von den zufriedenen Organisationen registriert, in etwa gleich viele wie im Jahr vorher.

Wie stelle ich mir einen Schriftstelleralltag vor? Lange im Bett bleiben und dafür bis spät in die Nacht hinein schreiben, mit einen immensen Zigaretten- und Weinkonsum? So was gibt es sicher auch. Paul Nizon erzählte den zuhörenden Lesern von seinem Schriftstelleralltag.

Er fragte sich auch, ob er mit der Sprache zum Leben finden wolle oder mit dem Leben zur Sprache. Seit den 1960er-Jahren führt er eine Zettelsammlung mit Ideen, Kritiken, Einwänden, Geistesblitzen. Dieses Jahr hat er «Die Zettel des Kuriers» von 1990 bis 1999 vorgelegt.

«Avanti Debütanti»

Typisch Literaturtage: Eine Stunde verbringen die Zuhörenden mit dem etablierten, bald 80-jährigen Paul Nizon, die nächste mit Debütantinnen wie Lea Gottheil, Annette Hug und Anja Jardine, die sehr erfrischend ihre Vergangenheit und die Vergangenheit ihrer Generation erkunden.

Während die in Zürich lebende Deutsche Anja Jardine ein sprachliches Feuerwerk veranstaltet und gestaltet (ihre journalistische Erfahrung schlägt durch), geht es bei Annette Hug und Lea Gottheil geruhsamer zu, aber nicht weniger tiefschürfend. Alle drei Autorinnen beweisen einen Schreibstil, der von genauen Beobachtungen genährt wird.

Die 33-jährige Lea Gottheil möchte gegen die Ansicht der Alten anschreiben, ihr Leben sei nicht erwähnenswert. Und richtig, die Geschichte ihrer Grossmutter und damit ihre eigene, ist es wert, publiziert zu werden.

Musikalisches Gestalten und ein Autor mit vier Händen

Jürg Beeler ist natürlich kein Debütant mehr, aber auch er beschäftigt sich mit Isolation und Entwurzelung und packt dieses Thema in seinem neusten Werk «Solo für eine Kellnerin» auch in eine Familiengeschichte ein. Sein Roman ist mehr als eine Geschichte, er ist eine Komposition und eng mit Musik verbunden.

Die St. Galler Christoph Keller und Heinrich Kuhn sind beide gestandene Schriftsteller mit einem eigenen Werk. Trotzdem schaffen sie als Keller+Kuhn seit gut 20 Jahren auch gemeinsame Texte. Sie schicken ihre Formulierungen und Ideen so lange via E-Mail hin und her, bis ein Text entstanden ist, der von einer Person verfasst scheint. In ihrem aktuellsten Werk «Der Stand der letzten Dinge», verfängt sich ein Autorenduo in seiner eigenen Story, indem seine Romanfiguren zu realem Leben erwachen und ins Leben der Autoren eingreifen.

Kann Literatur auf die Politik Einfluss nehmen?

Auf hohem Niveau unterhaltsam erwiesen sich die Diskussionen zu Politik und Literatur. Auch Bundesrat Moritz Leuenberger, der letztes Jahr ein weiteres Buch veröffentlicht hat, zeigte sich in Hochform. Sichtlich gut gelaunt diskutierte er mit dem Autor Peter Stamm.

Ja, es gebe tatsächlich unerwartet oft Auseinandersetzungen, ob man in der Politik zwangsweise lügen müsse oder nicht, erklärte Leuenberger. Stamm pflichtete bei: Am meisten Lorbeeren erhielten jene Politiker, die klare Aussagen machten, zu denen sie später nicht mehr stehen würden.

Angesprochen auf seine vielen Reden, die er als Bundesrat halten muss, meinte Leuenberger: «Mit einer Rede will man ja überzeugen. Und dazu braucht es ein wenig Unterhaltung. Kabarett und Politik sind sich – manchmal unfreiwillig – sehr nahe.»

Die Schlussrunde am Sonntag war der Diskussion vorbehalten. Adolf Muschg, der schon bei den ersten Literaturtagen vor 30 Jahren mitdiskutierte, ob sich die Schriftstellerzunft in die aktuelle Politik einmischen solle, war auch diesmal mit dabei.

Einig wurde man sich nicht. Während Georg Kreis die Literaten zu einer Zusammenarbeit mit den Filmschaffenden aufforderte, um mehr politische Wirkung zu erzielen, verwehrte sich Lukas Bärfuss gegen eine Anspruchshaltung an die Literatur: «Kunst ist kein Wunschkonzert, das liefert.»

Auch Muschg findet Ideologien, nach denen die Welt simplifiziert werde, als gefährlich: «Ein differenzierter Text ist die einzige Möglichkeit, dagegen anzugehen.» Denn als Schriftsteller müsse er sich auch in einen Menschen versetzen können, der Angst vor Fremden habe. «Ich muss auch auf den Blocher in mir hören, denn auch ich habe Angst vor zu vielen Fremden.»

swissinfo, Etienne Strebel in Solothurn

Zum Auftakt der Solothurner Literaturtage wurden am 1. Mai die Schillerpreise verliehen. Preisträger sind der Zürcher Urs Faes, die Bernerin Verena Stefan, der Freiburger Jean-François Haas und die Tessinerin Erika Zippilli-Ceppi.

Bei den rätoromanischen Produktionen fand die Jury kein preiswürdiges Werk.

Die 1978 gegründeten Solothurner Literaturtage sind das wichtigste Forum für das aktuelle Literaturschaffen in der Schweiz.

Neue literarische Arbeiten sollen Kontakte zwischen Schreibenden aus allen vier Sprachregionen und Publikum sowie Medien und Verlegern herstellen.

Die Solothurner Literaturtage sind der Ort geworden, wo sich Schweizer Autoren und Autorinnen einmal jährlich treffen, um persönliche und fachliche Gespräche mit Publikums-Beteiligung zu führen.

Zum 30. Geburtstag der Solothurner Literaturtage durften die Organisatoren den Zurlauben-Preis in Höhe von 100’000 Franken entgegennehmen.

Der Zurlauben-Preis für Sprach- und Buchkultur wird von der Zuger Kulturstiftung Landis & Gyr vergeben.

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