Multimedia und Literatur vermischen sich in Solothurn
Von der 15-jährigen Debütantin bis zum gefeierten Literaturnobelpreis-Träger: Die 28. Auflage der Solothurner Literaturtage deckte ein weites Spektrum ab.
Solothurn hat aber auch eindrücklich vor Augen und Ohren geführt, dass Literatur nicht bloss zwischen zwei Buchdeckeln steckt. Sie bewegt sich immer mehr in multimedialen Sphären.
Einen Literaturnobelpreis-Träger trifft man in der Schweiz relativ selten an. Rund 500 Literaturbegeisterte durften am Samstagabend in Solothurn den Südafrikaner John M. Coetzee, den Preisträger des Jahres 2003, erleben, sehen und hören: eine Sensation!
In Solothurn sind jedoch nicht nur die Stars der Szene gern gesehene Gäste. Denn die Programmkommission der Literaturtage will vor allem eine Werkschau des aktuellen schweizerischen Literaturschaffens präsentieren.
Dabei verschafft sie den Bewohnerinnen und Bewohnern des Literatur-Elfenbeinturms (Autoren, Wissenschaftern, Kritikern, Verlegern und Agenten) die Gelegenheit, sich auch mit ihrem Zielpublikum, den Leserinnen und Lesern, zu treffen.
Bravourös erledigte diese Aufgabe die 15-jährige Natalie Marrer, die jüngste je nach Solothurn eingeladene Autorin. Sie eröffnete die Literaturtage mit einer Lesung aus ihrem Roman «Die Traumkarten».
Und ihr Zielpublikum, jugendliche Leserinnen und Leser, pilgerte denn auch in Scharen in den Vorlesesaal. Viele Jugendliche zeigten sich nach der Lesung begeistert und beeindruckt, dass es der jungen Schriftstellerin als eine «unserer Generation» gelungen ist, erfolgreich ein Buch zu verfassen.
So ist im einen oder anderen Kopf wohl ebenfalls der Gedanke aufgeblitzt: «Könnte ich das auch?» Und wer weiss, vielleicht versucht der eine oder die andere in Nathalie Marrers Fussstapfen zu treten?
Literatur-Konsum mal anders
Man muss heutzutage nicht unbedingt lesen können, um Literatur zu geniessen. Das zeigt der immer grösser werdende Markt der Hörbücher. Ich brauche nur eine CD einzulegen und schon befinde ich mich in einer Welt, in der meine eigene Fantasie auf Reisen geht.
Das Dunkelzelt des Schweizerischen Blinden- und Sehbehindertenverbandes eröffnete den Sehenden an den Literaturtagen eine neue Dimension, indem es ihnen für kurze Zeit eine wichtige Dimension vorenthielt, den Sehsinn.
Einem Hörbuch, einem Sehbehinderten, der aus einem in Blindenschrift geschriebenen Buch vorliest, in absoluter Dunkelheit zu lauschen, vermittelt ganz neue Erfahrungen. Mit dem Wegfallen des dominanten Sehsinnes werden die übrigen Sinne geschärft. Auch werden in der Dunkelheit die Gefühle intensiver wahrgenommen.
Gibt es Schweizer Literatur im Ausland?
Eine weitere Aufgabe der Solothurner Literaturtage sind hochkarätige Diskussionsrunden. So setzte sich eine internationale Professorenrunde mit der Frage auseinander, ob die Schweizer Literatur im Ausland wahrgenommen wird. Die ernüchternde Antwort lautet «Nein!»
Dieser frustrierende Bescheid trifft allerdings nicht nur Wilhelm Tells Erbinnen und Erben. So stellten auch die ausländischen Germanisten fest, dass sie selbst auf einem exotischen Forschungsgebiet tätig sind. Denn nicht nur in englischsprachigen Ländern haben immer weniger Studierende Lust, sich mit der deutschen Sprache auseinanderzusetzen.
Und so teilen alle deutschsprachigen Literaturen im nicht deutschsprachigen Ausland ein gemeinsames Schicksal: Sie sind dort ausserhalb der germanistischen Fakultäten praktisch nicht präsent.
Ästhetik vor Pflicht
Aber auch im deutschen Sprachraum scheint die Schweizer Literatur nicht allzu viel zu gelten, wird oft beklagt.
Das Lokalkolorit der Schweizer Literatur gegenüber der deutschen sei vor allem oberflächlich, zeigte sich Michael Butler von der Universität Birmingham überzeugt. Das elementarere Schweizer Hochdeutsch brauche sich nicht zu verstecken, wie schon Frisch und Dürrenmatt gezeigt hätten.
Anne Marie-Gresser von der Universität Caen sieht eine gewisse Annährung an die Literatur Deutschlands. Seit sich die Schweizer Schriftsteller von der selbst auferlegten Pflicht befreit hätten, für ihr Land verantwortlich sein zu müssen, sei der Weg zur Ästhetik frei.
Dem pflichtet auch der Übersetzer Donal McLaughlin bei: «Die Schweizer Autoren wollen nicht in erster Linien als Schweizer gelten, sie wollen vor allem schreiben.»
Und sie lebt doch!
Dass die Schweizer Literatur nicht tot ist, dass sie lebt, zeigen die 28. Solothurner Literaturtage ganz deutlich. Und sie lebt nicht nur dank der (übermächtigen) erratischen Blöcke Frisch oder Dürrenmatt, sondern vor allem durch die teils zarten und trotzdem erstaunlich kräftigen Pflänzchen einer jungen Schriftstellergarde.
Denn diese hat gerade deshalb Chancen, weil die Schweizer Literatur momentan weder einen aktuellen Übervater noch eine Übermutter besitzt, keine Nobelpreisträger, welche die aufgehenden Sterne mit ihrer überragenden Grösse überstrahlen.
swissinfo, Etienne Strebel in Solothurn
64 Schreibende bestritten an den 28. Solothurner Literaturtagen 65 Veranstaltungen wie Lesungen, Diskussionsrunden, Schreibateliers.
Die Literaturtage verstehen sich als gesamtschweizerische Institution. Deshalb ist Literatur in allen Landessprachen zu hören.
Die Solothurner Literaturtage bieten traditionellerweise in einem «Offenen Block» noch unbekannten Schreibenden eine Auftrittsmöglichkeit.
Seit mehreren Jahren wird der Schreibwettbewerb unter dem Titel «OpenNet» durchgeführt.
Teilnehmende können ihre Texte, die in einer der Landessprachen verfast sein müssen, das ganze Jahr hindurch einreichen.
Eine Fachjury wählt aus den anonymisierten Einsendungen die Gewinner. Diese werden im Rahmen der Solothurner Literaturtage zu einer Lesung nach Solothurn eingeladen.
Für den nächstjährigen Wettbewerb ist der 31. Januar 2007 der Stichtag.
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