Der Mord an einem Juden im Gestern und Heute
April 1942. In der kleinen Schweizer Provinzstadt Payerne wird ein jüdischer Viehhändler "als Geschenk" für Hitler geopfert. Es handelt sich um ein dunkles Kapitel der Schweizer Geschichte, die der Regisseur Jacob Berger im Film "Un juif pour l’exemple" nacherzählt. Vorlage für den Film, der soeben am Filmfestival Locarno als Weltpremiere gezeigt wurde, ist das gleichnamige Buch von Jacques Chessex. Vergangenheit und Gegenwart verweben sich, damit sich die Geschichte nicht wiederholt.
Die Geschichte beginnt im April 1942. Rund um die kleine Schweiz tobt in Europa der Krieg. In Payerne, einer Kleinstadt im Kanton Waadt, scheint dieser Krieg aber weit entfernt. Dort sorgt vor allem die Schliessung einer Fabrik für Aufregung. 500 Arbeiter haben ihren Job verloren. Das Städtchen zählt 5000 Einwohner. In den Bars sitzen viele Leute, klagen über die Situation. Und sie suchen nach einem Sündenbock für ihre Misere. Käme da ein Jude mit grossen Autos und einem florierenden Business nicht gerade gelegen?
In Payerne, wie auch in anderen Orten der Schweiz, gibt es ein fruchtbares Terrain für die nationalsozialistische Ideologie. In den Strassen ertönen die Klänge der Wehrmacht und die Reden Hitlers. Doch dem Führer die Treue zu schwören, reicht nicht aus: Der Automechaniker Fernand Ischi und vier Gehilfen entscheiden sich, einen Juden um die Ecke zu bringen und Hitler «als Geschenk» zu offerieren.
Während eines Viehmarktes locken sie den Berner Viehhändler Arthur Bloch (60) in einen Stall. Dort wird er umgebracht, der Körper zerstückelt, in einem Milchfass versteckt und schliesslich im See versenkt.
Das Dorf Payerne hat Mühe, die Hintergründe dieser Tat zu analysieren und zu verstehen. Und als ein Jahr nach diesem Mord die fünf Täter verurteilt werden, wollen die Einwohner einen Schlussstrich unter diese Bluttat ziehen. Alles erscheint wie ein Albtraum, den man so schnell wie möglich vergessen will.
Gegen das Vergessen
Doch die öffentliche Empörung über diesen gravierenden Vorfall legte sich nie ganz. 1977 produzierte das Schweizer Fernsehen einen Dokumentarfilm, in dem einige der Hauptakteure dieser Geschichte zu Wort kommen. Im Jahr 2009 veröffentlicht der Schriftsteller Jacques Chessex das Buch «Un juif pour l’exemple» (Ein Jude als Exempel), «um das Unbeschreibliche zu beschreiben». Der Autor war zum Zeitpunkt des grausamen Mordes acht Jahre alt und spielte mit der Tochter von Ischi in den Strassen Payernes.
Im Städtchen reagierte man gar nicht gut auf diese Publikation. Chessex, der noch im gleichen Jahr starb, wurde vorgeworfen, «unnötigerweise in der Vergangenheit zu wühlen.» Selbst der Gemeindepräsident und der Stadtarchivar machten Chessex grosse Vorwürfe. Beim Karneval wurde sein Name mit einem SS-Mann gleichgesetzt.
«Chessex war nichts anderes als ein Bote, doch er wurde schlechter behandelt als die Mörder. Diese Episode zeigt symptomatisch, wie schwer sich die Schweiz manchmal tut, die eigene Vergangenheit aufzuarbeiten», sagt Regisseur Jacob Berger, der gemeinsam mit der Produzentin Ruth Waldenburger den Entschluss fasste, diese Geschichte für einen Kinofilm zu verarbeiten.
Bei dem am diesjährigen Filmfestival Locarno als Weltpremiere gezeigten Film handelt es sich um eine freie Interpretation des Buches von Chessex. Der Film zeigt die Gefühle und Ängste der Beteiligten auf, setzt die Gewaltszenen mit Sensibilität um und sieht von der Versuchung moralischer Werturteile ab.
«Die Banalität des Bösen»
Für Jacob Berger war es klar, dass es das Buch und diesen Film braucht. «Bei traumatischen Ereignissen gibt es zwei mögliche Haltungen: darüber sprechen oder vergessen. Die Schweiz entscheidet sich häufig für das Vergessen. Wahrscheinlich hat dies auch mit unserer Identität in einem Land mit mehrere Sprachen, Kulturen und Religionen zu tun. Damit ein Zusammenleben möglich ist, schliesst man gelegentlich die Augen angesichts eigener Schwachstellen», hält Berger fest.
Allerdings entsteht ein Problem, wenn die Vergangenheit nicht nur vergessen, sondern auch versteckt wird. «Die Schweiz ist ein Land, das auf Konsens setzt und positiv erscheinen will. Sie setzt sich gerne als Land des Friedens und der Stabilität in Szene, steht aber nur mit Mühe zu begangenen Abscheulichkeiten. Und das vorliegende Verbrechen gehört eindeutig zu den Abscheulichkeiten. Gerade deshalb bietet es sich an, dieses Ereignis nochmals in einem Prozess der kollektiven Verarbeitung Revue passieren zu lassen.»
Berger hat grossartige Dokumentarfilme und Reportagen für das Schweizer Fernsehen gedreht. Er fürchtet sich nicht vor den Reaktionen in Payerne. Denn sein Film zeigt nicht mit dem Finger eines Anklägers auf die Stadt, und nicht einmal auf die Mörder.
Ganz im Gegenteil versucht er, die Komplexität dieser Personen zu erfassen, ihren menschlichen Aspekt, «die Banalität des Bösen», um es mit einem bekannten Ausspruch der deutschen Philosophin und Historikerin Hannah Arendt zu sagen.
«Ich hätte diese Mörder einfach als Idioten zeigen können. Aber genau dies wollte ich nicht. Ich wollte vielmehr aufzeigen, dass in jedem von uns ein Stückchen dieser Dummheit und Gewalttätigkeit steckt.»
Gestern und heute
Das Böse und die Gewalt waren im Jahr 1942 keineswegs an einem Endpunkt angelangt. Es ging weiter. Und genau das ist einer der starken Punkte im Film von Jacob Berger: Der ständige Sprung zwischen Vergangenheit und Gegenwart, etwa durch die Figur von Chessex, als Kind und als alter Mensch, aber auch durch das überraschende Erscheinen zeitgenössischer Gegenstände in historischen Szenen. Die Zuschauer werden so herausgefordert: Ist der Unterschied zwischen gestern und heute wirklich so gross?
«Viele Dinge trennen uns heute von den 1940er Jahren, das stimmt. Aber andererseits gibt es auch viele Analogien. In unserer Epoche entstehen wieder autoritäre, autokratische und sogar diktatorische Regimes im Zentrum Europas. Das Denken der extremen Rechten setzt sich durch und feierte zusehends Erfolge. Und auch heute suchen wir im Kontext einer sozialen und wirtschaftlichen Krise nach einem neuen Sündenbock», meint der Regisseur.
Und dann ist da noch das Problem der Aufnahme von Flüchtlingen. 1942 wurden jüdische Flüchtlinge an der Grenze zurückgewiesen. Und heute? «Europa ist heute mit Tausenden von Flüchtlingen konfrontiert, die an unsere Türe klopfen. Und wir sind keineswegs überzeugt, dass wir sie aufnehmen wollen.»
Der Film «Un juif pour l’exemple» wendet sich keineswegs nur an ein erwachsenes und bewusstes Publikum. Im Rahmen eines speziellen Didaktikprogramms wird der Film auch Schülern und Schülerinnen gezeigt. Es folgt jeweils eine Diskussion mit dem Regisseur. Bisher haben mehr als 200 Lehrer aus der Westschweiz ihr Interesse angekündigt.
Vielleicht waren es gerade diese jungen Menschen, die Jacob Berger angespornt haben, die Vergangenheit mit der Gegenwart zu verknüpfen. «Wenn wir heute mit jungen Schülern über den Zweiten Weltkrieg sprechen, erscheint es so, als sprächen wir von der Steinzeit. ‹Damals› brachten sie die Juden um. Doch es gibt kein ‹damals›. Das damals ist heute.»
Am 20. Februar 1942 werden Fernand Ischi, Robert Marmier und Fritz Joss wegen des Mordes an Arthur Bloch vom Gericht von Payerne zu einer lebenslangen Haft verurteilt. Der damals minderjährige Georges Ballotte erhält eine Gefängnisstrafe von 20 Jahren, während Max Marmier mit 15 Jahren bestraft wird. Alle fünf Verurteilten kamen nach Absitzen von zwei Dritteln ihrer Strafe auf freien Fuss.
Auf dem Grabmal von Arthur Bloch auf dem Friedhof von Bern kann man bis heute die Inschrift lesen, die Ehefrau Myria – damals gegen den Willen des Rabbiners – eingravieren liess: «Gott weiss warum».
(Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob)
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