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Neue Bestattungsrituale in der Schweiz

Keystone/Martin Rütschi

In der Schweiz werden über 80% der Verstorbenen kremiert, oft wird deren Asche in der Natur beigesetzt. Einwanderer bringen neue Bestattungsrituale ins Land. Diese können sowohl bei Zuzügern als auch Einheimischen für Verunsicherung sorgen.

«Erdbestattungen sind heute fast zur Ausnahme geworden», sagt Claire Clivaz, Assistenzprofessorin an der Theologischen Fakultät der Universität Lausanne.

Der Friedhof ist schon lange nicht mehr der Ort der letzten Ruhestätte: Die Asche Verstorbener wird in der Natur verstreut, etwa im Garten des Ferienhauses, auf einem Berg, an einem See, in einer Urne im Wald beigesetzt, oder– sozusagen als Hightech-Variante– zu einem Diamanten gebacken.

Die Schweiz gehört zu denjenigen Ländern, die in Sachen Abschiedsrituale die grössten Freiheiten lassen. Mit einem Anteil von über 80% ist die Schweiz in Europa Spitzenreiterin bei den Feuerbestattungen, vor Tschechien, wie Andreas Tunger-Zanetti vom Religionswissenschaftlichen Seminar der Universität Luzern sagt.

«In rund 20% der Kremationen wird die Asche in der Natur verstreut», sagt Edmond Pittet, Leiter des Bestattungsunternehmens der Stadt Lausanne. «Für die Umwelt stellt das kein Problem dar, denn die Asche ist heute sehr fein.»

Liberal

Diese Freiheit ist ein Grund, weshalb die Schweiz neuen Ritualen relativ offen gegenübersteht, die von nicht traditionellen Glaubensrichtungen eingebracht werden.

«Die Gesellschaft entwickelt sich auch mit und durch die Migranten», sagt Julie Montandon vom Interkantonalen Informationszentrum über Glaubensfragen (CIC) in Genf. Als Folge befinden sich die verschiedenen Glauben im Alltag in steter Entwicklung, auch durch das regelmässige Auftauchen neuer Rituale.

Die Religionssoziologin erwähnt etwa «Sûkyô Mahikari», eine Gemeinschaft aus Japan, die weltweit 800’000 Anhänger zählt, 350 davon in der Schweiz. Montandon interpretiert den Kult, der sich am Shintoismus und Buddhismus orientiert, in erster Linie als «therapeutische Gruppe».

Einige religiöse Gruppen holen für ihre Riten eine offizielle Genehmigung der Behörden ein. So hiess die Stadt Luzern jüngst einen speziellen Bestattungsritus der Hindus gut. Seit Juni dürfen sie die Asche ihrer verstorbenen Angehörigen in den Fluss Reuss streuen. Bern und Zürich hatten schon zuvor solchen Ritualen grünes Licht erteilt.

«Viele Hindus, die dies in der Schweiz praktizieren, haben Angst, dass sie etwas Illegales tun», sagt Saseetharen Ramakrishna Sarma, ein Hindupriester aus Luzern. Deshalb würden viele Inder in ihr Heimatland reisen, um den Brauch zu vollziehen, was aber teuer sei, sagt Sarma.

«Traumatisiert»

«Es ist wichtig, dass die Schweiz allen Bewohnern erlaubt, alles Nötige zu unternehmen, damit ‹ihre› Toten ihren Frieden finden», sagt Claire Clivaz. Deshalb sei klar, dass Hindus ihren Bestattungsritus auch hier ausüben könnten.

Clivaz warnt aber davor, die Bedeutung des Körpers im jüdisch-christlichen Glauben zu unterschätzen: «Als Pastorin habe ich zahlreiche Menschen angetroffen, die nach einer Einäscherungen von verstorbenen Angehörigen traumatisiert waren.» So habe eine 16-Jährige nicht mehr mit ins Ferienhaus gehen wollen, weil dort im Garten die Asche ihres Grossvaters und eines Onkels vergraben worden war. «Die junge Frau fühlte sich von ihnen ‹heimgesucht'», so Clivaz.

Sie erwähnt auch die zahlreichen Fälle, in denen eine Urne mit der Asche Verstorbener zuhause auf dem Cheminée oder in einem Schrank aufbewahrt werde. «So nimmt der Schmerz kein Ende», sagt die Religionswissenschafterin.

Laizistische Feiern immer beliebter 

Die Zuwendung zu neuen Bestattungsriten trägt auch bei zur Abwendung von den traditionellen  Landeskirchen. «Heute will mehr als ein Drittel weder einen Pfarrer noch Priester, sondern eine laizistische Abschiedsfeier, die von einer Person aus dem Freundeskreis oder einer Drittperson gehalten wird», bestätigt Edmond Pittet. Nur eine ganz kleine Zahl wolle überhaupt keine Zeremonie.

Die Landeskirchen hätten ihr «Monopol» betreffend Bestattungszeremonien eingebüsst, sagt Julien Abegglen, der selber solche laizistische Feiern durchführt. «Die Kirchen antworten auf die Bedürfnisse vieler Menschen, aber viele haben sich auch von ihnen abgewendet.»

Abegglen erwähnt Geschiedene oder solche, die sich auf der Suche nach dem Sinn des Lebens anderen Glaubensrichtungen zugewendet haben oder Partner aus anderen Kulturen heiraten. «Nach ihrem Tod können sich ihre Hinterbliebenen keine traditionelle katholische oder protestantische Feier vorstellen», erklärt der freie Zeremonienmeister.

Landeskirchen müssen sich erneuern 

Auch François-Xavier Amherdt, Professor für Pastoraltheologie und Religionspädagogik an der Universität Freiburg, spricht von einer «Erosion der Nachfrage». Aber von den Feiern, welche die traditionellen Kirchen anbiete, um die wichtigen Stationen im Leben eines Menschen zu begleiten, seien es zweifellos die Abdankungen, die heute von den Menschen am meisten verlangt würden, sagt Amherdt.

«Die Kirchen stehen unter Druck und sind gefordert, ihre Sprache und ihre Riten zu erneuern, ohne das traditionelle christliche Erbe und seine Symbolik aufzugeben», beschreibt der Theologe die Herausforderung.

Priester und Pfarrer seien einerseits offen für neue Formen von Gottesdiensten, andererseits böten die traditionellen katholischen und protestantischen Riten grossen Spielraum, wenn dieser richtig ausgelegt werde.

Claire Clivaz betont, dass laizistische Zeremonienmeister auf die Hinterbliebenen eingehen könnten, damit die Feier nach ihren Wünschen verlaufe. «Aber die bekannten Bräuche, wie eine Blume oder Erde auf den Sarg im Grab werfen, beruhigen uns. Andere Kulturen kennen dies auch, oft sogar noch besser als wir», sagt die Religionswissenschafterin.

Laut einer neuen Studie des Schweizerischen Nationalfonds sind im Land 5734 religiöse Gemeinden aktiv, das entspricht 7,5 auf 10’000 Einwohner.

Die Hälfte machen anerkannte christliche Gemeinden aus, die andere Hälfte besteht aus nicht anerkannten christlichen sowie nicht-christlichen Kulten.

2010 erklärten sich 38,8% als Katholiken, 30,9% als Protestanten, 20,1% als konfessionslos. Muslime machten 4,26% aus, Juden 0,2%.

Es existieren keine neueren Zahlen.

Die Schweiz kennt im Gegensatz zu anderen Ländern keine Einschränkung bei der Verstreuung der Asche Verstorbener.

Viele Gemeinden bieten Angehörigen die Miete eines Baumes für eine bestimmte Zeit an, unter dem sie die Asche Verstorbener vergraben können. So unterhält Glovelier im Kanton Jura einen «Wald der Erinnerung».

Pionier war die Stadt Zürich, die seit Anfang 2000 in zwei Waldstücken so genannte Familien-Mietbäume anbietet. Unter ihnen können Hinterbliebene Urnen beisetzen, dies für die Dauer von 30 Jahren. Das Anbringen von Tafeln oder Kerzen ist aber nicht erlaubt.

In der Schweiz leben rund 40’000 Hindus. Nach Bern (Aare) und Zürich (Limmat) hat auch die Stadt Luzern Hindus erlaubt, die Asche Verstorbener in den Fluss zu streuen (Reuss).

Sowohl katholische wie auch reformierte Landeskirche hatten dem Antrag zugestimmt.

Das kantonale Umweltamt hatte bestätigt, dass die Wasserqualität in keiner Weise beeinträchtigt werde.

Wie für alle Einwanderer sei es auch für Hindus wichtig, dass sie ihre Religion und Bräuche in der Schweiz ausüben könnten, sagt Martin Baumann, Direktor des Theologischen Seminars der Uni Luzern.

Für Sibylle Stolz, Integrationsverantwortliche im Kanton Luzern, geht es auch um die «Garantie der Gleichbehandlung aller Religionen und die Anerkennung ihrer Diversität».

(Übertragung aus dem Französischen: Renat Kuenzi)

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