Neuer Schweizer Film entlarvt Rassismus als Instrument gegen die Arbeiterklasse
Der neue Dokumentarfilm des schweizerisch-irakischen Filmemachers Samir beleuchtet die Situation italienischer Immigrant:innen in der Nachkriegsschweiz. Es ist eine Geschichte über Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Widerstandskraft. Und ein Appell, die Vorurteile der Vergangenheit zu überwinden.
Ich treffe Samir am letzten Tag des 77. Filmfestivals von Locarno nach der Premiere seines neuen Films Die wundersame Verwandlung der Arbeiterklasse in Ausländer auf einen Kaffee.
Er ist müde, wie alle, die zehn Festivaltage voller Veranstaltungen und Treffen hinter sich haben, aber glücklich. Die vier Vorführungen seines Films waren alle ausverkauft und die Kritiken in den italienischsprachigen und italienischen Medien voll des Lobes.
Jede Debatte über Immigration wirft unweigerlich Fragen über Rassismus und Vorurteile auf, wobei die grundlegenden sozioökonomischen Fragen und Konsequenzen nicht immer berücksichtigt werden.
In Samirs Film überschneiden sich all diese Kategorien, wie schon der Titel des Films andeutet. Er liest sich wie eine These. Und in gewisser Weise ist er das auch.
Rassismus als System
«Ich wusste, dass Rassismus ein Konstrukt ist – man ‹konstruiert› die Identität von Menschen und schliesst einige von ihnen aus», sagt er. «Aber als ich das Bundesarchiv (Schweizerisches Bundesarchiv) in Bern betrat, verstand ich viel besser, wie tief und profund diese rassistische Struktur über Jahrzehnte hinweg aufgebaut worden war. Dahinter steckte kein böser Drahtzieher. Es ist ein System, das sich von selbst reproduziert, wie die Natur; eine schlechte Natur.»
Ein wichtiger Beitrag der deutschen Sprache zum institutionalisierten Rassismus der Nachkriegszeit findet sich im Begriff der «Überfremdung». Zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstanden, wurde er in den 1930er-Jahren von faschistischen Parteien übernommen.
In seiner modernen Bedeutung wurde der Begriff Mitte der 1950er-Jahre wiederbelebt, als auf die ersten Wellen italienischer Gastarbeiter:innen weitere aus Südeuropa, insbesondere aus Spanien, Portugal und Griechenland, folgten.
Er wurde sogar zum Schlüsselbegriff einer nationalen Volksinitiative im Jahr 1970, die auch als «Schwarzenbach-Initiative» bekannt ist, benannt nach dem rechtspopulistischen Schweizer Politiker James Schwarzenbach (1911–1994).
Sein Vorschlag, den Anteil der Ausländer:innen an der Gesamtbevölkerung der Schweiz auf 10% zu begrenzen (heute sind es über 25%) und die überzähligen Ausländer:innen – damals rund 350’000 – sofort auszuweisen, wurde von 54% der Stimmenden abgelehnt. «Aber man darf nicht vergessen, dass 46% mit Ja gestimmt haben», sagt Samir.
Die Macht der Worte
1993 erklärte die Gesellschaft für deutsche SpracheExterner Link «Überfremdung» zum Unwort des Jahres, da es «undifferenzierte Fremdenfeindlichkeit argumentativer und klinischer klingen lässt».
Samir setzt sich in seinem Film intensiv mit dem Gebrauch des Wortes auseinander und wie es eine bewusste Politik transportiert. «Bei meinen Recherchen bin ich auf Filmmaterial gestossen, in dem der damalige Vorsteher des Eidgenössischen Volkswirtschaftsdepartements – derselbe, der die Migranten in die Schweiz eingeladen hat – im Schweizer Fernsehen erklärt, dass die Überfremdung in der Schweiz gestoppt werden müsse», sagt er.
«Da begann ich zu verstehen, dass es sich nicht um eine schizophrene Politik handelte, sondern um ein System, das sie mit einer klaren Botschaft an die ‹Gäste› zu schaffen versuchten: Wir wollen, dass ihr [hier] arbeitet, aber ihr sollt keine Rechte haben.»
Zwischen Melancholie und Ironie
Rassismus und Vorurteile sind dem Filmemacher nur allzu vertraut. Seine Schweizer Mutter verlor ihre Staatsbürgerschaft, als sie einen Iraker heiratete. Samir, der 1955 in Bagdad geboren wurde und im Alter von sechs Jahren in die Schweiz emigrierte, erhielt die Schweizer Staatsbürgerschaft erst als Erwachsener – und das war nur möglich, weil seine Mutter nach der Heirat mit ihrem zweiten Mann, einem Schweizer, die Schweizer Staatsbürgerschaft wiedererlangte.
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Nach der Heirat ausgebürgert
Sein neuer Dokumentarfilm ist ein sehr persönlicher Film. Ereignisse aus Samirs Privatleben fliessen als Animationen in die Erzählung des Films ein. Neben seinen Erfahrungen als Ausländer sehen wir ihn im Arbeiterviertel von Dübendorf bei Zürich aufwachsen, wo er die Lokale der Gewerkschaften und der Sozialdemokratischen Partei besucht.
Doch statt sich als Opfer zu porträtieren, versucht Samir nach eigener Aussage immer wieder, über «diese seltsame Welt, in der wir leben», zu lachen. Er habe zwei wesentliche Charakterzüge entwickelt. «Das eine ist Melancholie, was nicht dasselbe ist wie Traurigkeit. Melancholie ist ein starkes Mittel, um für etwas Besseres zu kämpfen. Sarkasmus und Ironie sind die andere Seite», sagt er.
Die Prinzipien, auf denen das Schweizer Bürgerrecht beruht, sind die ersten Opfer dieser Haltung. Er fügt hinzu: «Die Schweizer sagen zum Beispiel gerne, dass sie etwas Besonderes sind und dass deshalb nicht jeder diesen Pass umsonst bekommt. Auf der anderen Seite bekommen sie ihren Pass zufällig bei der Geburt. Und ich habe zufällig eine Schweizer Mutter.»
Samir weiter: «Wieso bin ich dann kein Schweizer? Weil ich einen dunkelhäutigen Vater habe, oder was? Selbst als ich diesen Schweizer Pass hatte, wurde ich von der Polizei verprügelt und als «Papierlischwiizer» beschimpft. Ich konnte nur sagen: Wer seid ihr, dass ihr mir sagt, was ich bin? Am besten ist es, darüber zu lachen.»
Teilen und Herrschen im Klassenkampf
Jahrzehntelang wurden die Gastarbeiter:innen allein gelassen. Weder von den Schweizer Arbeiter:innenorganisationen noch von ihren Herkunftsländern wurden sie unterstützt – selbst die Kommunistische Partei Italiens erinnerte sich nur bei Wahlen an ihre Existenz.
Eine der eindrucksvollsten Sequenzen des Films zeigt, wie selbst linke Unterstützer:innen, insbesondere die Gewerkschaften, ausländische Arbeiter:innen ausgrenzten und die Kohorten der Überfremdung in ihren Bann zogen.
«Als die Arbeiterklasse als Klasse zu schwinden und zu bröckeln begann, verkündeten die rechten Parteien, dass du vielleicht kein Arbeiter mehr seist, aber vor allem Schweizer bist», sagt Samir.
Das war eine wirksame Strategie, um die allmähliche Entrechtung der einheimischen Arbeiter:innenklasse zumindest psychologisch auszugleichen und gleichzeitig eine Kluft zwischen Arbeiter:innen schweizerischer und ausländischer Herkunft zu schaffen.
Wo sind all die Arbeiter:innen hin?
Diese Situation begann sich erst in den 1970er-Jahren zu ändern, als eine neue Generation von Gewerkschaftsführer:innen, von denen viele einen Universitätsabschluss hatten, begann, die ausländischen Arbeitnehmer:innen in ihrer Mitte anzusprechen und einzubeziehen.
«Inzwischen ist die Arbeiterklasse an einem neuen System der individualisierten Arbeit zerbrochen. Der Grossteil der Arbeit findet nicht mehr in der Fabrik statt. Man erledigt sie zu Hause oder wo auch immer. Die schwere Arbeit wird automatisiert oder ausgelagert. Natürlich gibt es immer noch Menschen, die hart arbeiten, aber es ist schwierig, sie als Arbeiterklasse zu bezeichnen, weil sie nicht mehr vereint sind und es sich nicht mehr um eine Klasse handelt «, sagt Samir.
«Die bürgerliche Klasse weiss sehr genau, was sie ist», fügt er hinzu. «Sie hat ihre Verfassung und ihre Kultur. Die Arbeiterklasse hat 150 Jahre lang versucht, das zu erreichen, und jetzt zerfällt sie, weil sie als Faktor oder als Kern in den grossen Fabriken nicht mehr existiert. Wir befinden uns also wirklich in einer schwierigen Situation, in der die neuen Arbeiter hauptsächlich Immigranten oder sehr arme Einheimische sind.»
Traumatische Integration
Heute wird die letztendliche Integration italienischer Gastarbeiter:innen als Beispiel genannt, das sich auf spätere Migrationswellen erstreckt – wie die Geflüchteten, die in den 1990er-Jahren vor den Kriegen im ehemaligen Jugoslawien flohen. Doch der Prozess war mit einem enormen Trauma verbunden.
Samir erzählt, dass einige der Menschen, die er während der Recherchen für den Film interviewte, sich weigerten, vor der Kamera zu sprechen. Während der Dreharbeiten erfuhr der Regisseur auch, dass seine italienische Ex-Freundin ein ehemaliges «Schrankkind» war (d.h. ein Kind von Gastarbeiter:innen, die illegal in die Schweiz gekommen waren).
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«Versteckte Kinder» fordern Gerechtigkeit
Sie hatten kein Recht auf Familiennachzug und mussten ihre Tage zu Hause verbringen, um der Polizei aus dem Weg zu gehen. «Ich war schockiert und fragte sie, warum sie mir das nie erzählt habe, und sie antwortete, warum sollte ich mit dir über diese tiefe emotionale Verzweiflung sprechen?»
Heute ist es jedoch nicht ungewöhnlich, dass die Nachkommen der Gastarbeiter:innen, in der Schweiz Secondos und Secondas genannt, das fremdenfeindliche Gedankengut rechter Parteien teilen.
Wenn es eine abschliessende Botschaft in diesem Film gibt, dann ist es die des italienischen Journalisten Concetto Vecchio von La Repubblica: «Ihr dürft es nicht vergessen. Wir sind nicht gut behandelt worden. Und jetzt lasst uns die nächsten Migranten nicht so behandeln, wie wir behandelt wurden».
Samirs Projekt soll weitergehen. Ein europäischer Fernsehsender hat den Filmemacher kürzlich mit der Produktion einer Serie beauftragt, in der jede Folge ein europäisches Land in den Mittelpunkt stellt und einen historischen Blick auf dessen Einwanderungshindernisse wirft.
Editiert von Mark Livingston/sb. Übertragung aus dem Englischen: Michael Heger
Hinweis: Die SRG, die Muttergesellschaft von SWI swissinfo.ch, hat diesen Film über Radiotelevisione Svizzera (RSI) mitproduziert.
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