Neues Leben im tunesischen Filmschaffen
In diesem Jahr setzt das Festival Visions du Réel einen speziellen Akzent auf tunesische Dokumentarfilme. Fünfzehn Filme zeugen von einem neuen Leben, aber auch von Unsicherheit nach der einzigen gelungenen demokratischen Revolution in der arabischen Welt. Zu sehen sind sie ab dem 25. April.
«Wir legen die Hände nicht in den Schoss, weil wir jung sind. Unsere Revolution ist gelungen. Jetzt treffen wir die Vorbereitungen für die nächste Regierung», sagt der 28-jährige Filmverleiher Mohamed Ali Ben Hamra, Korrespondent des Festivals Visions du Réel in Tunis.
«Die tunesische Gesellschaft ist die einzige, welche die Herausforderungen des Wandels meistern konnte», sagt der junge Mann. «Aber das Land ist noch nicht stabil. Es existiert noch keine Strategie, um die Kultur im Zusammenhang mit dem Wandel zu würdigen, und zwar in allen kulturellen Bereichen, nicht nur beim Film.»
Es gebe zwar ein Gesetz zur Förderung der zahlreichen tunesischen Filmproduzenten, aber die finanziellen Mittel fehlten, sagt Ali Ben Hamra. Der Grossteil der Staatsgelder werde für die Wirtschaft verwendet.
Aber wie lässt sich – angesichts dieser Umstände – die Vitalität des tunesischen Kinos erklären? «Unter dem Regime des 2011 gestürzten Präsidenten Zine Ben Ali schossen die Filmschulen in Tunesien – private und öffentliche – wie Pilze aus dem Boden. Sie boten eine Ausbildung an, die in den Nachbarländern wie Libyen oder Algerien nie auf die Beine gestellt wurde», sagt er.
Das Internationale Filmfestival Nyon feiert vom 25. April bis 3. Mai 2014 sein 45-jähriges Bestehen, davon 20 Jahre unter dem heutigen Namen Visions du Réel.
Es gilt als weltweite Plattform zur Lancierung von Filmen, die den Blick auf die Realität schärfen. Dieses Jahr werden Filme aus 51 Ländern gezeigt.
Aus den 3500 geprüften Filmen wurden 116 für den Wettbewerb ausgewählt (Spielfilme, mittellange und Kurzfilme) und 59 werden ausserhalb des Wettbewerbs gezeigt. Insgesamt ist eine Rekordanzahl von Erstaufführungen (116) zu sehen.
Neue Optik
Jasmin Basic, die für die Selektion der tunesischen Filme für Visions du Réel zuständig ist, bezeichnet sich selber nicht als Expertin für Filme aus dem arabischen Raum. Sie ist mit Neugier und ohne Vorurteile in die tunesische Welt eingetaucht. «Ich war plötzlich ganz überrascht von der Vielfalt der Sichtweisen und Themen», sagt die Programmverantwortliche.
Ein starkes Ereignis wie eine Revolution verleihe dem Bedürfnis, sich auszudrücken, sich in allen Bereichen hörbar zu machen, starke Impulse, sagt Jasmin Basic. Es gehöre aber nicht zu den Aufgaben von Visions du Réel, lediglich die Ereignisse abzubilden. Das Festival erforscht die Sichtweise des Autors. «Weil ein Dokumentarfilm so wunderbar subjektiv ist, sprengt er alle Grenzen», sagt sie.
Sie sei sehr angetan von den Aspekten, die im Zusammenhang mit dem Alltag der tunesischen Filmproduktion stünden. «Die Banalität ist Trägerin der Botschaften» und Zeichen dafür, dass «das Leben weiter geht».
Der Schweizer Dokumentarfilmer Richard Dindo wird mit dem Preis «Maître du Réel» ausgezeichnet. Seine Filme über Arthur Rimbaud, Che Guevara und Jean Genet in Chatila gelten unter anderen als Meisterwerke des Dokumentarfilms.
Einige aus den Teilnehmern der letzten 20 Ausgaben ausgewählte Regisseure wurden dazu eingeladen, Mikro-Filme von 3 Minuten Dauer über das Thema «Spuren der Zukunft» zu realisieren. Die Resultate sind so vielfältig wie die Realisatoren.
Die Sektion «Weitwinkel» präsentiert ein «Best Of» der weltweiten Festivals.
Der «Doc-Outlook International Market» (DOCM) unterstützt und fördert bereits seit 12 Jahren Filmprojekte durch ihre verschiedenen Produktionsschritte. Dieses Jahr spannt DOCM mit der Crowdfunding-Plattform «Wemakeit» zusammen.
Dieses Jahr ist die Sektion FOCUS in Zusammenarbeit mit der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (Deza) und Visions Sud-Est dem tunesischen Film gewidmet. 15 Filme werden gezeigt, 5 befinden sich noch in der Realisationsphase. Ein Preisgeld von 10’000 Franken winkt dem vielversprechendsten Projekt. Am 29. April werden sich alle tunesischen Teilnehmer dem Publikum stellen.
Sicht der Frauen
Überrascht wurde Jasmin Basic auch von der starken Präsenz der Frauen in Tunesien, sogar in Schlüsselfunktionen. Die zahlreichen Regisseurinnen fungierten nicht als Feministinnen, sagt Jasmin Basic, aber als Autorinnen, die das Bedürfnis hätten, sich auszudrücken und ihre Stimme hörbar zu machen. «Dieses Phänomen verdient Aufmerksamkeit. Es gibt so wenige Filmemacherinnen, sogar am Festival in Cannes.»
Gezeigt wird in Nyon u.a. der Film «Le Facebook de mon père» von Erige Seheri, die über den Journalismus zum Filmschaffen gelangt war. Ihre Produktionen bezeichnet sie selbst als «Dokumentationen des Schaffens», eine konstruierte Realität, die aber nie in die Fiktion abgleite.
Erige Seheri erkennt im aktuellen tunesischen Filmschaffen neues Leben, frischen Wind. «Die jungen Regisseure wollen sich von den Kostümen befreien, die viel zu lange getragen wurden, um etwas vorzutäuschen.» Die Präsenz zahlreicher Frauen habe der Produktion eine neue Richtung verliehen: «Wir haben das Bedürfnis, auf andere Art über die Gesellschaft zu sprechen als die Männer, die oft an den Handlungen viel stärker beteiligt sind.»
Die Geschichte von ihrem Vater, der dank Facebook Verbindung aufnimmt mit seiner Heimat und sich nach 40 Jahren im Exil wieder dort niederlässt, spiegelt den Wandel Tunesiens zur Demokratie. Es genügte durchaus, dass Erige Seheri aufmerksam beobachtete, was sich im Bergdorf abspielte, aus dem ihr Vater herkommt.
«Die tunesische Revolution hat auf dem Internet für eine starke Mobilisierung gesorgt. Zwischen 15 und 77 Jahren ist niemand daran vorbeigekommen», sagt die Regisseurin. «Sogar die Diaspora hat die Entwicklungen in Echtzeit miterlebt und die Emotionen direkt gespürt, was das Fernsehen nicht ermöglicht. Das Resultat davon war, dass die Menschen plötzlich damit anfingen, sich auszudrücken.»
Erige Seheri wird in Nyon auch dabei sein, um die Mittel zur Beendigung eines Projekts zu erhalten, für das sie seit zwei Jahren arbeitet. «The Normal Way» ist die Geschichte von Eisenbahnern auf einem mystischen Bahntrasse. Die fünf Protagonisten – darunter eine Frau – versuchen, alle auf individuelle Art, die Unsicherheit zu meistern. «Die Unsicherheit ist überall. Ich lasse sie zum Ausdruck kommen», sagt die Regisseurin.
Nach der Revolution
EL KONTRA Lassaad Hajji | 2013
LAÏCITÉ, INCH’ALLAH! Nadia El Fani | 2011
LE FACEBOOK DE MON PÈRE My Father’s Facebook, Erige Sehiri | 2012
YA MAN AACH C’était mieux demain, Hinde Boujemaa | 2012
AL MOUÂRIDH L’opposant, Anis Lassoued | 2012
EL HIT YHÉB YESEELKOM LABAS?, Le mur vous demande: ça va? Ahmed Hermassi | 2012
NOUS SOMMES ICI We Are Here, Abdallah Yahya | 2012
Beobachtungen des Alltags
1, 2, 3, … 5, 6, 7 Bilel Bali | 2012
LA MAISON D’ANGELA, The House of Angela, Olfa Chakroun, Dionigi Albera | 2012
BANET EL BOXE Boxing with Her, Latifa Robbana Doghri, Salem Trabelsi | 2011
Vor der Revolution
AL MALJAA Le refuge, Nadia Touijer | 2003
LE CHANT DU MILLÉNAIRE Mohamed Zran | 2002
RAÏS LABHAR Ô! Capitaine des mers, Hichem Ben Ammar | 2002
HS KALOUCHA Nejib Belkadhi | 2006
Zeitlos
BABYLON Ala Eddine Slim, ismaël, Youssef Chebbi | 2012
(Übertragung aus dem Französischen: Peter Siegenthaler)
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