Nichts ist möglich: Schweizer Animationskünstlerin lotet Grenzen der virtuellen Realität aus
Fabienne Giezendanner, deren Projekt "Bloom" kürzlich auf einem Virtual-Reality (VR)-Festival in Prag vorgestellt wurde, spricht über die Herausforderung, Kunst und Technologie zu verbinden, über die VR-Situation in der Schweiz und darüber, warum es ein "grosser Glücksfall" ist, zwei Pässe zu besitzen.
Virtuelle Realität ist als Kunstform an die Technologie gebunden, die ihr Gestalt gibt. Um in eine VR- oder XR-(Extended Reality)-«Erfahrung» einzutauchen, muss man eine Virtual Reality-Brille aus Kunststoff aufsetzen.
Sobald dieses Gerät auch nur die kleinste Fehlfunktion aufweist, Kabel sich um Knöchel oder Handgelenke wickeln oder sogar Geräusche oder Körperempfindungen von der Aussenwelt eindringen, wird die Illusion sofort zerstört.
Und wenn Künstler:innen ein VR-Erlebnis kreieren wollen, ist es sicher hilfreich, wenn sie sich mit der entsprechenden Programmiertechnik auskennen.
Sollten ihre Ambitionen ihre technologischen Kompetenzen übersteigen, müssen sie die Hilfe von Entwickler:innen in Anspruch nehmen, deren technischer Realismus auch die Vision der Künstlerin oder des Künstlers einschränken kann.
Beim «ART*VR» – dem Festival für virtuelle Realität und immersive Kunst in Prag, das im Oktober stattfand – habe ich mir über diese Grenzen der Form Gedanken gemacht.
Das Festival findet im Museum für moderne Kunst DOXExterner Link statt. Es ist in eine feste Ausstellung unterteilt, in der eine Auswahl an kuratierten Projekten durch das Aufsetzen eines beliebigen Headsets frei zugänglich ist, und einen Wettbewerbsbereich, der sich über eine Etage des Museums erstreckt, mit einem Projekt pro Headset.
Obwohl VR immer noch als die futuristischste aller Kunstformen wahrgenommen wird, bleibt ihre Technologie hartnäckig primitiv. Die Projekte dauern selten länger als 25 Minuten, was auf technische Beschränkungen, die Unbequemlichkeit der Headsets und sehr reale Bedenken hinsichtlich Übelkeit zurückzuführen ist.
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Die meisten Projekte sind entweder Computeranimationen oder fotorealistische Minifilme, die mit 360°-Kameras in der realen Welt aufgenommen wurden.
Die Headsets werden von Meta hergestellt, der Muttergesellschaft von Facebook, die auch den Vertriebs- und Produktionsmarkt beherrscht.
Tatsache ist: Die Grafiken, die sie animieren, könnten aus einem 10 oder 15 Jahre alten Videospiel stammen. Sie sind trotz ihres Anspruchs auf ein hyperrealistisches Eintauchen durch offensichtlich erkennbare Störungen, so genannte Kompressionsartefakte, gezeichnet – die Himmel sind zum Beispiel mit Pixeln gefüllt.
Porträt einer Schweizer VR-Künstlerin
Zu den auf dem Prager Festival gezeigten Projekten gehörte «Bloom» (2023) der 57-jährigen schweizerisch-französischen Animatorin Fabienne Giezendanner.
Als erfolgreiche 2D-Animatorin wurde sie mit Anfang fünfzig von den Möglichkeiten des Kunstschaffens im virtuellen Raum angezogen.
Als ich mich in Prag mit ihr unterhielt, war ich überrascht, wie sehr Giezendanner das Ausmass betonte, in dem ihre Arbeit derzeit durch das Mögliche noch eingeschränkt ist.
«Für eine Animatorin kann das ziemlich frustrierend sein», sagt sie gegenüber SWI swissinfo.ch. «Ich kann meinen Designer um zehn Vögel bitten, und weil sie so klein sein müssen, sagt er mir, ‹Nein, es müssen drei sein.›.»
«Als ich [2016] anfing, war es natürlich viel schlimmer. Aber auch heute noch muss man es auf etwa 200 Megabyte pro Clip beschränken. Das ist sehr schwierig und bedeutet, dass wir das, was wir haben, immer wieder anpassen müssen.»
Hinzu kommen die formalen, erzählerischen Qualitäten, die der Form eigen sind. «Es ist eine Herausforderung [für eine immersive Künstlerin], Skripte in Konditionalsätzen zu schreiben – ‹wenn, dann›. Das heisst, man muss so denken: Wenn Betrachtende diese Vogelanimation ansehen, muss eine andere Animation beginnen. Wenn man sich zu lange auf dieses Denken einlässt, bekommt man Kopfschmerzen», lacht sie.
«Aber abends beim Essen beginnt man vielleicht alle Möglichkeiten zu begreifen, die einem zur Verfügung stehen.»
Ein digitaler Wald in Blüte
Die virtuelle Realität steckt noch in den Kinderschuhen, und die meisten Projekte folgen erkennbaren Mustern. Die grosse Aktualität des Themas ist eines davon.
Der Filmkritiker Roger Ebert bezeichnete das Kino einmal als «Empathie-Maschine», und das ist eine gängige Weise, VR zu mythologisieren.
Die Zuschauer:innen werden in die Lage derjenigen versetzt, die beispielsweise unter Fehlgeburten oder Wochenbett-Psychosen leiden, oder die Zeugen der sozialen Misshandlung koreanischer Trostfrauen sind – um einige Beispiele aus dem Prager Schaukasten zu nennen.
Selbst ein loses, reich strukturiertes und bewusst experimentelles Werk wie «Oneroom-Babel» (2023) von Lee Sang-hee wird in seiner Zusammenfassung als Reaktion auf die gegenwärtige Wohnungskrise beschrieben.
«Bloom» taucht uns in einen lebendigen Klima-Albtraum ein. Man steht in den Strassen von Ornans, Frankreich, wo Giezendanner lebt. Das Museum von Gustave Courbet – der französische Künstler aus dem 19. Jahrhundert wurde in der Stadt geboren – ist in der Ferne sichtbar und schwelt.
Fahle Asche wirbelt durch die Luft. In der Ferne ertönt der Notruf, Geräusche der Panik. Ein Vogel taucht auf und führt uns in einen Wald, um der Hitze zu entfliehen.
Ich schaue auf meine Hände – meine echten Hände, hinter der Brille. Zweige ragen aus ihnen heraus. Meine Handgelenke sind mit Moos bedeckt. Meine ganze linke Hand hat begonnen zu blühen; ich bin zum Wald geworden.
Ich frage, wie eine erfolgreiche 2D-Animatorin den Herausforderungen und Grenzen der virtuellen Form begegnet. «Zuerst schreibe ich die Geschichte», sagt Giezendanner.
«Dann beginnen [meine Mitarbeitenden und ich], die Geräusche zusammenzustellen und die grundlegenden Animationen zu erarbeiten – zum Beispiel die des Vogels, der die erwähnte Aktion auslöst. Ich spreche mit dem Animator oder demjenigen, der die Hintergründe erstellt. Und der Unity-Entwickler [Game-Engine-Designer] kann sich auch eine Vorstellung davon machen, welche Trigger mir für die Animation vorschweben.»
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VR-Produktion in der Schweiz
Giezendanner ist in der Schweiz geboren, lebt und lehrt aber heute in Frankreich. Ihre Gründe dafür sind pragmatischer Natur. «Ich habe sowohl einen Schweizer als auch einen französischen Pass», sagt sie.
«Ich wechsle zwischen beiden Ländern, je nachdem, wo es einfacher ist, eine Finanzierung zu finden. Wenn ich einen Produzenten in einem der beiden Länder finde, kann ich selbst die Koproduzentin sein, und so haben wir zwei Länder, was alles einfacher macht. Für Künstlerinnen und Künstler ist es ein grosser Glücksfall, zwei Pässe zu besitzen.»
Die Community für immersive Fiktion [bei der man in eine fiktive Umgebung eintaucht] entsteht in der Schweiz gerade erst. Es gibt zwar einige wichtige Motoren, die sich dem weiteren Wachstum von VR-Arbeiten und deren Vertrieb verschrieben haben, aber sie stecken noch in den Kinderschuhen.
«In Frankreich existiert bereits eine grosse Community. Es gibt Ko-Produzenten, Förderungen, wunderbare Kuratorinnen. Die Schweiz hat das GIFF [Internationales Filmfestival Genf, wo ‹Bloom› uraufgeführt wurde], das ist grossartig», sagt Giezendanner.
«Doch ja, wir stehen in der Schweiz noch ganz am Anfang. Ehrlich gesagt sind die Löhne höher und es gibt weniger Leute, die bereit sind, VR-Projekte zu produzieren.»
Die Finanzierung ist eine Sache, das Wissen eine andere. Als junge Form, die mit fortschrittlichen Programmiertechnologien verknüpft ist, bleibt VR für viele junge Künstler:innen ungewohnt und weit weg.
«Meine Studierenden kommen meist aus den Bereichen Film, Theater, Animation und Tanz», sagt Giezendanner. «Wenn sie beginnen zu begreifen, wie es funktioniert, denken sie, dass alles möglich ist. Meine Aufgabe ist es, ihnen zu sagen: Nichts ist möglich», sagt sie und lacht.
«Sie müssen über die Rolle der Betrachtenden nachdenken; sie müssen in logischen Abläufen denken. Ich mag keine passiven [VR-]Erfahrungen. Ich mag es, wenn die Betrachtenden wissen, warum sie sich in diesem Erlebnis befinden.»
Möglichkeiten und Fallstricke
Alle künstlerischen Formen sind, vor allem zu Beginn, durch die Technologie begrenzt, die ihre Existenz ermöglicht. In dem Masse, in dem die neuen Technologien Kunstschaffende von den Beschränkungen elementarer Formen befreien, wird auch ihr Schaffen offener und komplexer – man denke nur an das Kino, das trotz oberflächlicher Ähnlichkeiten bestenfalls eine entfernte Cousine der virtuellen Realität ist.
Erfolgreiche digitale Filme – wie der populäre Machinima-Dokumentarfilm «Grand Theft Hamlet» (2024) – können heute ohne Kameras produziert und vertrieben werden, ohne jemals in einem Kinosaal vorgeführt zu werden (obwohl das bei «Grand Theft Hamlet» nicht der Fall war), und dennoch als «Filme» gelten.
Vielleicht bin ich zu fest in diese alte Welt eingebettet. Wenn ich mir ein Projekt wie «Bloom» ansehe, werde ich von den allgegenwärtigen Kabeln abgelenkt, welche die Brille mit den Kopfhörern oder bei anderen Projekten mit dem PC verbinden, der die Bilder erzeugt.
Die Brille sitzt nie perfekt, so dass der körperlose Effekt durch den Anblick des eigenen Schosses, der durch den Spalt am Ende der Nase sichtbar ist, untergraben wird.
Diese inhärenten technischen Einschränkungen wirken wie ein unerwünschtes Hindernis für die Vorstellung, dass VR wirklich eine immersive Form ist.
Zugleich bot das Festival den Besucher:innen die Möglichkeit, virtuelle Touren durch den immersiven Raum zu unternehmen, indem sie einer Führung durch Multi-User-VR-Chat-Umgebungen folgten, die nicht an bestimmte Zeitlimits gebunden sind.
Trotz ihres ausgesprochenen «Lo-Fi»-Looks begeisterte die Möglichkeit, sich in akribisch gestalteten digitalen Welten zu bewegen – die in diesem Fall eher an Videospiele erinnern – sichtbar diejenigen, die sich auf die Touren begaben.
In diesen Türen der Möglichkeiten, die sich nach und nach öffnen, liegt ganz offensichtlich eine grosse Kraft.
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Editiert von Catherine Hickley / ts, Übertragung aus dem Englischen mit der Hilfe von Deepl: Petra Krimphove
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