Nicolas Bouvier: Der Schriftsteller kommt in Paris auf die Bühne
Er gilt als einer der bedeutendsten Schweizer Autoren des 20. Jahrhunderts. Nicolas Bouviers Meisterwerk "Die Erfahrung der Welt" wird derzeit in Paris mit Samuel Labarthe in der Hauptrolle aufgeführt.
Montparnasse gilt als kultureller und literarischer Olymp. Der weltberühmte Pariser Stadtteil war während den 1920er-Jahren Zuflucht und Sprungbrett für die Bohème.
Die talentierten, aber oft mittellosen Künstler:innen fanden hier Anerkennung. Unter ihnen war Alberto Giacometti, der gemeinsam mit seinem Bruder in einem winzigen Atelier Plastiken und andere Kunstwerke schuf.
Heute wird ein anderer kleiner Raum in Montparnasse vom Geist eines Schweizers bewohnt: Nicolas Bouvier. Auf der kleinen Bühne des Théâtre de Poche wird derzeit das Meisterwerk des Genfer Schriftstellers aufgeführt – «Die Erfahrung der Welt».
Eine Bühnenadaption erzählt in prägnanter Klarheit von der abenteuerlichen Reise, die Bouvier von 1953 bis 1954 mit seinem Freund Thierry Vernet unternahm. Die beschwerliche, aber glückliche Fahrt im Fiat Topolino führte die beiden Bohemiens 18 Monate lang durch den Balkan und den Nahen Osten.
Die Reise wurde zur Legende und fasziniert bis heute Schweizer:innen und internationale Leser:innen. Das Buch weckt das Bedürfnis, den eigenen Horizont zu erweitern, «die Alpen zu überschreiten und das Meer zu sehen», wie einst Michel Bühler sang.
Magische Reise
Auf ihrer Reise durch die Türkei, den Balkan, den Iran und Afghanistan erleben Bouvier und Vernet Schönes und Überraschendes: Neuartige Klänge, faszinierende Düfte, fruchtbare Gespräche und vor allem viele Eindrücke vom Leben und der Landschaft in diesen Regionen.
«Es war eine enorme Herausforderung, diese grosse Reise in nur 70 Minuten auf der Bühne zu präsentieren», sagt der französisch-schweizerische Schauspieler Samuel Labarthe. Er ist vor allem für seine Rolle als Kommissar in der Serie «Les Petits Meurtres d’Agatha Christie» bekannt.
Mit Unterstützung von zwei Literaturexpert:innen und der Regisseurin Catherine Schaub gelang ihm eine meisterhafte und ausgewogene Umsetzung. «Es ist wirklich magisch herausgekommen», sagt Labarthe begeistert.
Mit authentischer Nüchternheit erzählt er auf der Bühne von Bouviers Abenteuern und unermüdlicher Kühnheit. Während Labarthe vor dem Publikum sitzt, zeichnet sich seine Silhouette auf einer grossen Leinwand ab. Auf diese werden Zeichnungen von Thierry Vernet sowie Fotos des Schriftstellers projiziert, die während der Reise entstanden sind.
Man sieht Prilep in Mazedonien, den Weg nach Ankara und Täbris im Iran. «Ich wollte die Erinnerungen des Autors zum Leben erwecken», sagt der Schauspieler.
Wie Herodot
Während der Fiat sich fortbewegt, bewegt sich auch die Erzählung weiter, sie entfaltet sich wie ein Comic. Er habe von Beginn weg den Wunsch gehabt, ein animiertes Theaterstück zu kreieren. «Übrigens bedeutet Topolino auf Italienisch ‹kleine Maus'», fügt er hinzu und denkt dabei an die berühmte Zeichentrickfigur Mickey Mouse.
Nach der Vorstellung kommen die Zuschauer:innen zu Labarthe und teilen ihre Gefühle mit ihm. Unter ihnen sind langjährige Bouvier-Fans und auch solche, die ihn gerade erst entdeckt haben.
«Vor allem junge Menschen sind von Bouviers offener Weltsicht berührt, weil unsere Gesellschaft sich immer mehr abschottet», sagt Labarthe. «Dieser Andere, der uns heute oft als Feind dargestellt wird, ist bei Bouvier etwas Wertvolles, dem er stets brüderlich begegnet ist.» Er vergleicht den Schriftsteller mit dem griechischen Historiker und Geographen Herodot.
Ein Weltwerk
Der Iran oder Afghanistan sind heute oft mit Angst und Unsicherheit verbunden, doch Labarthe glaubt, dass Bouvier dazu beitragen kann, uns mit diesen Ländern zu versöhnen. In seinem Werk schreibt er gefühl- und oft sogar liebevoll über die Menschen dort.
«Bereits mit 24 Jahren war Bouvier sehr reif und wusste viel über die Welt», fährt der Schauspieler fort. Er betrachtete die bereisten Länder und Kulturen mit einem neuen Blickwinkel, lernte die Landessprache, hielt Vorträge und schrieb Artikel für Genfer Zeitungen.
Wobei er immer darauf achtete, die Dinge in ihren historischen Kontext einzuordnen. Bouvier ist ein Enzyklopädist im Stil der grossen französischen Autoren Diderot und D’Alembert. «Er hat wie sie unser Wissen erneuert und ein Weltwerk geschaffen», sagt Labarthe.
Zurück nach Genf
Sein Stück ist wegen des grossen Erfolgs bereits verlängert worden und geht bald auf Tournee durch Frankreich, Belgien und die Schweiz. Im Herbst wird es im Théâtre de Carouge in Genf aufgeführt, wo Bouvier einen Teil seines Lebens verbracht hat.
Theaterdirektor Jean Liermier betrachtet Bouvier als Aufklärer und Visionär, der seinen Platz im Theater verdient hat. «Er respektierte Unterschiede und hatte einen intelligenten Zugang zum Intimen», sagt Liermier. «Ich denke, dass gerade Menschen in hohen Positionen gut beraten wären, Bouvier zu lesen.»
Dank des Theaterstücks wird Bouvier in Pariser Buchhandlungen oft empfohlen. Samuel Labarthe freut sich über die literarische Aura, die Bouvier in Frankreich seit etwa zehn Jahren ausstrahlt, vergleichbar mit Stendhal.
Selbst in seiner Heimat Schweiz hat Bouvier sich nie in den Vordergrund gedrängt und wurde erst fünf oder sechs Jahre vor seinem Tod im Jahr 1998 berühmt. «Es ist toll, dass er in Paris eine so grosse Anerkennung geniesst», freut sich der Schauspieler, «Ich hoffe, dass ich einen bescheidenen Beitrag dazu geleistet habe.»
Editiert von Pauline Turuban, Übertragung aus dem Französischen: Christoph Kummer
Übertragung aus dem Französischen: Christoph Kummer
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