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Jacques Dubochet, ein vorbildlicher «Nobel-Bürger»

Chemie-Nobelpreisträger Jacques Dubochet wurde zum Maskottchen der jungen Klima-Aktivisten. ldd

Der Umgang mit Ruhm, wenn er unerwartet eintrifft, ist nicht immer leicht. Chemie-Nobelpreisträger Jacques Dubochet hat dies erlebt. Der Schweizer Wissenschaftler verliess den Ruhestand, um seinen Ruhm in den Dienst der von ihm verteidigten Sache zu stellen. Diese Geschichte erzählt der Film "Citoyen Nobel" des Schweizer Regisseurs Stéphane Goël, der an den Solothurner Filmtagen präsentiert wird.

Was würden Sie tun, wenn Sie über Nacht berühmt würden und plötzlich Journalisten aus der ganzen Welt mit Ihnen sprechen möchten? Was würden Sie der Welt sagen? Wofür würden Sie sich einsetzen?

Bild eines Mannes mit Sonnenbrille.
Der Schweizer Regisseur Stéphane Goël. ldd

Jacques Dubochet ist das passiert, und er hat sich diese Fragen gestellt. Mit 75 Jahren geniesst der Forscher und Universitätsprofessor im Herzen der Waadtländer Stadt Morges seit zehn Jahren den Ruhestand. Am 4. Oktober 2017 steht er von einer Sekunde auf die andere plötzlich im Rampenlicht: Zusammen mit dem Amerikaner Joachim Frank und dem Briten Richard Henderson erhält er den Nobelpreis für Chemie. Die drei Biophysiker wurden für ihre Arbeit in der Elektronen-Kryomikroskopie ausgezeichnet, einer Technik, die es erlaubt, Moleküle in drei Dimensionen zu beobachten, ohne sie zu verändern.

«Auf der Hälfte der Fotos habe ich meinen Mund geöffnet», scherzt Dubochet vor der Menge der Journalisten und Fotografen, die gekommen sind, um den frisch Gekürten zu verewigen. Über das Prestige des Preises hinaus wird das Publikum durch einen bescheidenen Charakter mit einem wunderbaren Sinn für Humor und Offenheit verführt.

Was anfangen mit dem Ruhm?

Dubochet weckt die Neugier des Schweizer Regisseurs Stéphane Goël und des Produzenten Emmanuel Gétaz. Diese beschliessen, die neue Berühmtheit zu begleiten. «Die Idee des Produzenten war es, einen grossen wissenschaftlichen Film zu drehen. Aber es war schwierig, zu einem rein wissenschaftlichen Thema einen Film für das Kino zu machen. Der Mensch und die Art und Weise, wie der Ruhm sein Leben verändert, fand ich interessanter», sagt Goël. Der Regisseur entscheidet sich deshalb, folgender Frage nachzugehen: Was machen wir mit Ruhm?

Der Prunk der Nobelpreis-Zeremonie in Stockholm kontrastiert mit der Bescheidenheit des Waadtländers Jacques Dubochet. ldd

«Ich habe keine neuen Fähigkeiten erworben, aber meine Stimme ist gefragt: Ich muss an ein Treffen der Sozialdemokratischen Partei, ans ICP-Treffen [Personen mit motorischen Störungen aufgrund einer frühkindlichen Hirnschädigung], an einen Myopathie-Anlass. Aber was habe ich da zu sagen? Andere wären geeigneter!» Vor der Kamera fragt sich der Wissenschaftler, wie er seine neue Legitimation nutzen soll. «Er stand vor einem grossen existenziellen Abgrund», kommentiert Goël.

Der Nobelpreisträger, der sich bereits für Migranten engagiert, im Stadtparlament sitzt und gegen die Kontrolle der Forschung durch Patente der Pharmaindustrie kämpft, ist plötzlich ein gefragter Mann. «Zuerst wurde er nach seiner Meinung zu allem und jedem gefragt», sagt der Regisseur. Nach und nach wurde ihm klar, dass er «seine Kämpfe auswählen» muss, um ihnen mehr Gewicht zu geben – und, um sich selbst zu schonen und sein Familienleben zu bewahren.

«Ich habe keine neuen Fähigkeiten erworben, aber meine Stimme ist nun plötzlich gefragt.» Jacques Dubochet

Feuer und Flamme fürs Klima

Die Statements der jungen schwedischen Klimaaktivistin Greta Thunberg faszinieren Dubochet. Er lässt sich von den Protesten der jungen Aktivistinnen und Aktivisten mitreissen. Die soziale Bewegung rührt die ökologische Ader im Wissenschaftler, der bereits in den 1970er-Jahren gegen das Atomkraftwerk-Projekt Kaiseraugst im Kanton Aargau protestiert hatte.

«Jacques Dubochet ist sich bewusst, dass er der Generation der Babyboomer angehört, die mitgeholfen hat, den Zustand des Planeten zu verschlechtern», sagt Goël. Der Regisseur hat beobachtet, wie sich Dubochet mit den jungen Militanten solidarisiert, für die er zu einem «Symbol des Klimastreiks» geworden ist. Er gibt der Bewegung wissenschaftliche Rückendeckung.

«Auch wenn er nicht Klimatologe ist, ist er berechtigt, sich zum Thema zu äussern. Denn er hat die molekulare Herkunft des Lebens studiert», so Goël. Der Nobelpreis für Chemie führte ihn somit zur Bedeutung, die er seinem Engagement geben wollte: Er richtete den Fokus auf das Klima.

Der Chemie-Nobelpreisträger 2017 ist ein Fan der schwedischen Klima-Aktivistin Greta Thunberg. ldd

Gleichzeitig bleibt der Wissenschaftler in der Legislative der Gemeinde Morges tätig, gibt jungen Migrantinnen und Migranten Kurse und pflegt zusammen mit seiner Frau den Garten. «Er hätte in eine andere, internationalere Welt abheben, einen Lehrstuhl an einer Universität in China annehmen können. Doch er realisierte, dass es wertvoller ist, auf lokaler Ebene aktiv zu sein, wo er wirklich Dinge verändern kann», sagt der Regisseur.

So sieht sich der Film denn auch als Plädoyer für das lokale bürgerschaftliche Engagement, das allen offensteht. Goël hofft, dass «das Publikum berührt ist und die Geschichte in ihm die Lust weckt, sich selber auch zu engagieren».

Nobel oder Modell?

Doch was heisst es wirklich «Nobel-Bürger» zu sein? Das Gleiche, wie ein «normaler Bürger», sagt der Regisseur. Das heisst, «sich zu engagieren, seine Werte nicht zu verraten und die Möglichkeiten zu nutzen, die uns das Leben bietet, um sich für die möglichst edelste Sache zu engagieren». Eine Mission, die Dubochet zu gelingen scheint.

«‹Nobel-Bürger› zu sein heisst, sich zu engagieren, seine Werte nicht zu verraten und die Möglichkeiten zu nutzen, die uns das Leben bietet, um sich für eine möglichst edle Sache zu engagieren.»
Stéphane Goël

Ist der «Nobel-Bürger» aber auch ein Modellbürger? Nach zwei Jahren Dreharbeiten hat Goël keine dunklen Seiten an seiner Filmfigur entdeckt. «Dubochet verfolgt keine versteckte Agenda und trägt keine Rüstung. Er ist bescheiden, offen und sicher ehrlich. Eine Ehrlichkeit, welche die Menschen berührt, über die er aber manchmal auch stolpert.»

Trotzdem konnte der Regisseur auch die Grenzen Dubochets ausloten: «Wie er selber sagt, hat er Mühe, die Gefühle der anderen oder ironische Bemerkungen zu verstehen. Das ist eine Charakteristik, die er mit Greta Thunberg teilt.»

Goëls Blick auf den Menschen Dubochet hat sich nicht verändert: «Von Anfang an war er authentisch.» Der Film brachte ihn jedoch dazu, die Nützlichkeit des Nobelpreises in Frage zu stellen: «Er zeichnet einen einzelnen Menschen aus, während zahlreiche Leute bei einer Entdeckung mitgearbeitet haben. Das sagt Jacques Dubochet selber.»

Für den Regisseur hängt alles davon ab, wie ein Preisträger seinen Preis einsetzt: «Man müsste fast vorher wissen, was die Person damit vorhat, wenn er übergeben wird, damit es nicht nur um Ruhm oder Geld geht.»

Eine Frau im Schatten

Der Nobelpreis hat Dubochet ins Scheinwerferlicht gerückt, symbolisiert durch den Glanz der Preisverleihung an der Königlich Schwedischen Akademie der Wissenschaften. Umgekehrt wurde damit seine Frau Christine in den Schatten verbannt, in den Rang eines «Anhängsels des Genies», wie er lachend kommentiert. «Für sie war es sehr schwierig. Sie hatte sich auf diesen ruhigen Abschnitt in ihrem Leben gefreut. Aber dieses Ereignis hat alles auf den Kopf gestellt», sagt Regisseur Goël.

«Hier an diesem Ort fühle ich, dass die Situation sehr ernst ist»: Jacques Dubochet beobachtet einen Gletscher, der aufgrund der Klimaerwärmung immer kleiner wird. Idd

Der Film versucht daher auch, der Frau gerecht werden, ohne die nichts möglich gewesen wäre. Dubochet ist sich dessen bewusst: «Ich bin noch ein Erbe jener Epoche, als der Mann das Schiff steuerte, die Richtung bestimmte und die Frau ihm mehr oder weniger folgte. Und daran habe ich kaum gerüttelt. Es war hauptsächlich sie, die sich um die Kinder gekümmert hat.»

Das Paar bezeichnet sich als «ergänzend» und findet sich im gemeinsamen Engagement für die Umwelt. So sammelten sie Seite an Seite Unterschriften für die Gletscher-Initiative.

Kein normales Leben mehr

Zwischen zahlreichen Einladungen und Anfragen von Journalisten «verändert ein Nobelpreis das Leben» und «destabilisiert es erheblich», anerkennt Dubochet zu Beginn des Films. Er äussert dort auch seinen Wunsch, «zurück zu einem normalen Leben zu finden».

Hat er es, zwei Jahre später, geschafft? «Nein, das ist ein Problem», sagt er gegenüber swissinfo.ch. Er hält fest, dass der mediale Druck nicht abgenommen habe. Und natürlich mindert das Erscheinen von «Citoyen Nobel» diesen auch nicht.

«Der Film ist eine Geschichte meines Lebens, aber er ist nicht mein Leben», sagt er. Die Sicht des Regisseurs auf seine Realität hat den Nobelpreisträger jedoch berührt: «Der Film zeigt, was in diesen beiden Jahren geschehen ist und wirft einen sehr schönen Blick auf mich. Er ist ein grosses Lob.»

Stéphane GoëlExterner Link wurde 1965 in Lausanne (Kanton Waadt) geboren. Er arbeitet seit 1985 als unabhängiger Cutter und Regisseur. Zwischen 1987 und 1993 lebte und arbeitete er in New York.

Bevor er zum Dokumentarfilm kam, realisierte er mehrere experimentelle und poetische Videos. Nach seiner Rückkehr in die Schweiz stiess er zum Kollektiv ClimageExterner Link, für das er zahlreiche Dokumentarfilme für Kino und Fernsehen realisiert hat.

(Übertragung aus dem Französischen: Kathrin Ammann und Christian Raaflaub)

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