Die Schweiz soll eine Kommission zur Beurteilung von NS-Raubkunst bilden
Die Schweiz soll eine unabhängige Kommission für den Umgang mit NS-Raubkunst bilden, fordert ein Parlamentarier. Andere Nationen haben solche Institutionen seit Jahrzehnten.
Der sozialdemokratische Nationalrat Jon Pult fordert eine unabhängige Kommission, die «in Fällen von NS-verfolgungsbedingtem Kulturgutverlust» Empfehlungen über die Rückgabe an die ursprünglichen Eigentümer:innen abgibt. Seine parlamentarische Motion ist eine Reaktion auf die heftige Kritik an der Ausstellung der umstrittenen Sammlung von Emil Georg Bührle, im neu eröffneten Erweiterungsbau des Kunsthauses Zürich.
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Bührle verdiente sein Vermögen mit Waffenverkäufen an Deutschland während des Zweiten Weltkriegs, kaufte von den Nazis geraubte Kunst und profitierte von Zwangsarbeit. Die Bührle-Stiftung, der die rund 200 im Museum ausgestellten Werke gehören, behauptet, dass keines dieser Werke als Raubkunst gelten könne. Die Provenienz der Kunstwerke wurde von der Bührle-Stiftung selbst abgeklärt. Kläger sagen jedoch, dass sie ohne ein neutrales Gremium keine Chance für eine faire Anhörung erhalten.
«Die Geschichte der Emil-Bührle-Sammlung hat gezeigt, dass das Thema grösser und brisanter ist», sagt Pult. «Wir brauchen verbesserte Instrumente für den Umgang mit diesem Thema.» Mit der Einsetzung einer unabhängigen Kommission würde die Schweiz ihren Beitrag zur Aufarbeitung eines dunklen Kapitels der Geschichte leisten und ihre Verantwortung wahr nehmen, schreibt Pult in der Begründung der Motion. Diese wird auch vom Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund, einem Zusammenschluss jüdischer Gruppen, unterstützt.
Die Schweiz, die vor und nach 1945 als Drehscheibe für NS-Raubkunst diente, gehört zu den 44 Regierungen und Organisationen, die 1998 die unverbindlichen Washingtoner Grundsätze unterzeichnet haben. In deren Rahmen erklärten sie sich bereit, Museen zu ermutigen, von den Nazis beschlagnahmte Kunstwerke zu identifizieren und mit den ursprünglichen jüdischen Sammler:innen und ihren Nachkommen «gerechte und faire Lösungen» für verfolgungsbedingt verlorene Werke zu suchen.
Während Frankreich, Deutschland, Österreich, die Niederlande und Grossbritannien 23 Jahre nach der Verabschiedung der Washingtoner Grundsätze Gremien eingerichtet haben, um Ansprüche auf NS-Raubkunst in Museumssammlungen zu prüfen, hat die Schweiz dies bisher nicht getan.
Letzten Monat bezeichneten ehemalige Mitglieder der Bergier-Kommission – ein internationales Gremium, das 1996 eingerichtet wurde, um die Finanzgeschäfte der Schweiz während des Zweiten Weltkriegs zu untersuchen – die Bührle-Situation als «Affront» gegenüber den Opfern. Sie forderten ebenfalls die Einrichtung einer solchen Instanz.
Pult sagt, er habe die Unterstützung von Parlamentarier:innen aus sechs Parteien für seinen Antrag. Er hofft, dass die Regierung ihn annehmen werde. «Es liegt im aussenpolitischen Interesse der Schweiz, glaubwürdig zu sein», sagt er und fügt hinzu, dass die Initiative «besser spät als nie» komme.
Anne Webber, die Ko-Vorsitzende der in London ansässigen Kommission für Raubkunst in Europa, sagt, dass die Schweiz seit der Annahme der Washingtoner Prinzipien «erratisch und inkonsequent» mit NS-Raubkunst umgegangen sei.
«Sie ist regelmässig Verpflichtungen eingegangen, hat diese aber nicht erfüllt», sagt Webber. «Die Bundesregierung verspricht faire und gerechte Lösungen, aber es gibt keinen Rahmen, der sicherstellt, dass diese auch umgesetzt werden.»
Die Regierung vertrat bisher den Standpunkt, dass es nicht genug Fälle gibt, um ein derartiges Gremium zu rechtfertigen. Doch Benno Widmer, der Leiter der Abteilung Museen und Sammlungen des Bundesamtes für Kultur, meinte letzten Monat, dass » die Forderung nach einer externen Kommission erneut geprüft» werden könnte, «wenn der Bedarf aufgrund einer zunehmenden Anzahl strittiger Fälle zunimmt.»
Die Befürworter:innen der unabhängigen Kommission führen an, dass es in der Schweiz bereits mehrere Klagen wegen NS-Raubkunst gegeben hat. So erbte das Berner Kunstmuseum den umstrittenen Nachlass des zurückgezogen lebenden Cornelius Gurlitt. Sein Vater, Hildebrand Gurlitt, hatte im besetzten Europa als Händler und Kunsteinkäufer für Adolf Hitler gearbeitet. Vierzehn Werke aus dem Nachlass wurden bisher an die Erben jüdischer Sammler:innen zurückgegeben, deren Kunst geraubt oder unter Zwang verkauft wurde.
«Diese Kommission hätte schon vor 15 Jahren eingesetzt werden müssen», sagt Andrea Raschèr, ein unabhängiger Berater, der von 1995 bis 2006 die Abteilung für rechtliche und internationale Angelegenheiten im Bundesamt für Kultur leitete. Er ist der Meinung, dass ein neues Gremium «völlig unabhängig sein sollte und seine Mitglieder eine optimale Mischung aus Juristen, Ethikeren und Historikeren sein sollten. Es lohnt sich, sowohl das deutsche als auch das britische Modell genau zu betrachten.»
Und wie der Antrag von Pult zeigt, könnte es in den kommenden Jahren noch mehr Arbeit für das Gremium geben – denn auch Schweizer Museen untersuchen ihre Sammlungen aus der Kolonialzeit. Museen in anderen Ländern, darunter Deutschland, Grossbritannien und die USA, haben sich beispielsweise verpflichtet, ausgestellte Objekte zurückzugeben, die 1897 bei einem britischen Überfall auf das königliche Königreich Benin im heutigen Nigeria geplündert wurden. Acht Schweizer Museen haben ihre Ressourcen gebündelt, um die Herkunft ihrer eigenen Benin-Sammlungen zu untersuchen. Das Forschungsprojekt wird voraussichtlich im Sommer 2022 abgeschlossen sein.
Natürlich gibt es Widerstand gegen die Pläne von Pult. Christoph Blocher, Kunstsammler und graue Eminenz der rechtskonservativen Schweizerischen Volkspartei SVP, schrieb in einem Essay für die Wochenzeitung Weltwoche, die Debatte um die Bührle-Sammlung sei «ein Auswuchs der moralisch verseuchten Gesellschaft». Beim Ruf nach einem Gremium gehe es nur um Historiker:innen und Jurist:innen, die auf lukrative Aufträge hofften, schrieb Blocher.
«Ich rechne nicht mit einer schnellen Entwicklung, denn der Widerstand der Museen und der privaten Sammler wird beträchtlich sein», sagt Olaf Ossmann, ein auf NS-Raubkunstfälle spezialisierter Anwalt aus der Schweiz. «Die Museen werden sich mit allen Mitteln dagegen wehren.»
Webber jedoch gibt die Hoffnung noch nicht auf: «Es ist zu hoffen, dass das Gurlitt-Vermächtnis in Bern und die Bührle-Situation in Zürich einen Stein ins Rollen gebracht haben, damit die Schweizer Regierung die Problematik umfassend aufgreift und mit echter Entschlossenheit und Engagement angeht», sagt sie. «Solange das nicht geschieht, wird das Problem nicht verschwinden.»
(Dieser Artikel wurde am 9.12.2021 überarbeitet.)
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