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Nylon, Nazis und Betriebsspionage

Strümpfe aus Schweizer Produktion, bewundert an der Mustermesse Basel, 1954.
Strümpfe aus Schweizer Produktion, bewundert an der Mustermesse Basel, 1954. Keystone

1950 kam die Schweizer Synthetikfaser "Grilon" auf den Markt – dank Betriebsspionage und der Zusammenarbeit mit ehemaligen Nazis. 

Der 15. Mai 1940, als Tausende amerikanische Hausfrauen die Warenhäuser stürmten, um die ersten Nylon-Strümpfe zu ergattern, ging – analog zum D-Day –  als «N-Day» in die Geschichte ein. Die Kunstfaser Nylon war kurz vor dem Zweiten Weltkrieg vom US- Chemiegiganten DuPont patentiert worden. Kurz darauf entwickelte der deutsche Chemiemulti I.G. Farben eine Nylon-Variante namens Perlon.

Die Schweiz musste etwas länger warten. Im Februar 1950 berichtete die Berner Zeitung Der Bund, die HOVAG AG arbeite als erste Schweizer Firma an der Entwicklung einer synthetischen Textilfaser. Ihr Markenname sei «Grilon» – eine Wortschöpfung aus Nylon und dem künftigen Produktionsstandort im Kanton Graubünden. 

swissinfo.ch publiziert eine dreiteilige Serie der Historikerin Regula Bochsler über die Vorgeschichte der Ems-Chemie, die der Unternehmer Christoph Blocher 1983 vom 1979 verstorbenen HOVAG-Gründer Werner Oswald übernahm. Später wurde Blocher zum Chefstrategen der Schweizerischen Volkspartei (SVP), die er auf rechtskonservativen Kurs trimmte und zur stärksten Partei der Schweiz machte, was sie bis heute ist.

Für die Recherche verwehrte seine Tochter Magdalena Martullo-Blocher, die heutige Chefin der Ems-Chemie, Bochsler den Zutritt zum Firmenarchiv.

Die HOVAG mit Sitz in Domat/Ems im Kanton Graubünden war erst beim Versuch gescheitert, aus Holz einen Benzinersatz zu entwickeln.

In den 1950-Jahren dann entwickelte sie klandestin die Napalm-Version «Opalm», eine chemische Feuerbombe mit verheerender Wirkung. Um das Exportverbot des Bundes zu umgehen, verlagerte Oswald die Produktion nach Deutschland.

Opalm wurde erfolgreich an zahlreiche Länder und Organisationen verkauft, die in kriegerische Konflikte verwickelt waren.

Hier sind die anderen Teile der Serie:

Holz-Treibstoff: Die Idee von Kriegsgewinnlern floppte

Napalm aus den Alpen

Betriebsspionage für eine Schweizer Erfindung

Auch das Bündner Tagblatt begrüsste das «initiative Vorgehen» von HOVAG-Gründer Werner Oswald und jubelte: «Freuen wir uns also, dass dieser Ausgangsstoff für zahlreiche Industrien nun in der Schweiz und ausgerechnet in Graubünden selbst produziert werden soll.»

Einzig das Berner Tagblatt bezweifelte, dass «Grilon» auf Schweizer Mist gewachsen war: «Sind dazu nicht im Wesentlichen die kostspieligen Forschungsergebnisse einer deutschen Industrie und deutscher Wissenschafter verwendet worden?» Das Blatt behauptete sogar, Amerika habe die Auslieferung von fünf von der HOVAG beschäftigten deutschen Spezialisten verlangt. Doch die brisante Meldung verpuffte. Kein Journalist machte sich die Mühe, die Hintergründe zu recherchieren. Dabei hätte es am Firmenstandort in Domat/Ems einiges zu entdecken gegeben.

Plan für die Produktion von Grilon
Fabrikationsprozess des Grilon-Fadens: Gestärkt mit Ideen aus den Perlon-Fabriken in Deutschland Schweizerisches Bundesarchiv

Die Fabrik war 1941 gebaut worden, um mit Hilfe öffentlicher Gelder Ersatztreibstoff für die Kriegswirtschaft zu produzieren – siehe den Beitrag oben. Doch die Normalisierung des Benzin-Imports nach Kriegsende zwang die HOVAG, neue Produkte zu entwickeln und auf den Markt zu bringen. Zwar wurde die Firma noch bis 1956 vom Bund unterstützt, doch dann musste sie auf eigenen Füssen stehen – oder dicht machen. 

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Opalm Wolke

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Napalm aus den Alpen

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Lange glaubte man, die Napalm-Variante «Opalm» komme aus der Sowjetunion – doch sie war «Swiss Made».

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Die Rettung kam von deutschen Spezialisten, unter ihnen ehemalige Mitglieder der NSDAP, der SS und SA. Über einen ehemaligen hochdekorierten Nazi-Spitzenfunktionär lernte Oswald 1947 den deutschen Chemiker Johann Giesen kennen. Dieser hatte als einer der Direktoren des deutschen Chemie-Giganten I.G. Farben beim Bau und Betrieb des Chemiewerks Auschwitz-Monowitz mitgewirkt, wo rund 25’000 Zwangsarbeiter:innen aus dem nahegelegenen Konzentrations- und Vernichtungslager den Tod gefunden hatten.

Giesen verpflichtete sich, Oswald sämtliche zur Produktion von synthetischen Fasern notwendigen Unterlagen und die entsprechenden Spezialisten zu beschaffen – für 300‘000 Franken plus eine Umsatzbeteiligung in unbekannter Höhe. Der ehemalige Top-Nazi war der richtige Mann für diese Aufgabe. Die Alliierten hatten ihn 1946 zum Direktor des Bayer-Werks Uerdingen ernannt und ihn beauftragt, eine Produktionsanlage für Perlon – das deutsche Pendant zu Nylon – aufzubauen.

1948/49 vermittelte Giesen rund zwei Dutzend ehemalige I.G. Farben-Angestellte nach Domat/Ems. Die meisten waren aus der sowjetischen Besatzungs-Zone geflohen, wo der Braindrain von Fachkräften ein riesiges Problem darstellte. Allein das Chemiewerk Leuna, aus dem mehrere HOVAG-Mitarbeiter stammten, verlor in kurzer Zeit über die Hälfte seiner Perlon-Spezialisten. 

Szenen aus dem Lager der Grilon-Produktion
Szenen aus dem Lager der Grilon-Produktion Schweizerisches Bundesarchiv

Diese Chemiker und Ingenieure brachten auch Pläne von Produktionsanlagen und Maschinen nach Ems, die ihren Arbeitgebern gestohlen worden waren. Dem Maschineningenieur Johannes Lesche wurde die Betriebsspionage zum Verhängnis. Weil die sowjetischen Grenzposten in seinem Rucksack Pläne aus der Thüringischen Zellwolle AG fanden, wurde er wegen Spionage zu 25 Jahren Arbeitslager verurteilt. Nach der Begnadigung 1956 floh Lesche sofort in den Westen und trat mit achtjähriger Verspätung die Stelle an, die Oswald ihm versprochen hatte. Auch Johann Giesen flog auf, kam aber glimpflicher davon. Er wurde von den Allierten wegen Werkspionage zugunsten der HOVAG gefeuert, aber nie angeklagt. 

Für die HOVAG waren die Deutschen ein Segen: Ihre Tochterfirma Inventa meldete innerhalb von zwei Jahren die beeindruckende Zahl von dreissig Patenten an, die sämtliche Stufen der Herstellung von synthetischen Fasern abdeckten – von der Herstellung des Grundstoffes Caprolactam bis zum Spinnen der Fasern. Allerdings wurden die deutschen Mitarbeiter in den Patentschriften nicht genannt, weil Oswald «Grilon» als Schweizer Erfindung ausgeben wollte.

Konkurrenz für das «Schweizer» Grilon

Am selben Tag, als der Markenname «Grilon» bekannt wurde, fragte ein Inserat in der Neuen Zürcher Zeitung: «Nylonmangel in der Schweiz?» Der Inserent war Karl Schweri, später bekannt als Gründer der Schweizer Discountkette Denner: Er warb für Perlonfasern, die er aus Deutschland importierte.

Drei Tage später tauchte eine weitere Konkurrentin auf. Die Société de la Viscose Suisse (Viscose) informierte, sie werde innert Jahresfrist das Verspinnen von Nylonmasse aufnehmen. Ab Februar 1951 prangte an ihrem neuen Fabrikgebäude im Luzernischen Emmenbrücke ein riesiger NYLON-Schriftzug, im Innern bedienten Männer in weissen Overalls einen futuristisch anmutenden Maschinenpark. Die Kapazität der Anlage betrug 50 Tonnen Nylon monatlich, was laut einer Fachzeitschrift einer Fadenlänge von «etwa 750 mal dem Erdumfang» entsprach. Kein Wunder, prophezeite die Presse einen «scharfen Konkurrenzkampf» zwischen Emmenbrücke und Ems. 

Der Stand der Viscose an der Basler Mustermesse 1952 heimste viel Lob ein. «Die kompliziertesten Plissierungen, die zartesten Spitzen können gewaschen und müssen nicht einmal mehr gebügelt werden», schwärmte die Neue Zürcher Zeitung. «So tragen künstliche Textilfasern, geschaffen von Menschengeist und Menschenhand, dazu bei, unser Leben nicht nur leichter, sondern auch schöner und farbiger zu machen.» Das Wirtschaftswunder war endgültig in der Schweiz angekommen – symbolisiert durch das Nylon der Viscose. 

Nebelspalter Karikatur
Nebelspalter

«Grilon» suchte man an der Messe vergebens. Laut einem Experten des Bundes kämpfte Ems «mit grossen technischen Schwierigkeiten». Im Frühling 1953 lief endlich die erste Produktionsstrasse. Wenig später erschien ein Inserat, in dem ein freundliches Schaf erklärte: «Neu erschien GRILON – die erste schweizerische synthetische Faser – jedem ausländischen Produkt ebenbürtig.» Manchmal wurde die «erstaunliche Widerstandskraft» von mit «Grilon» durchwirkter Wolle den Hausfrauen auch im heimeligen Dialekt angepriesen: «Grilon stricke, nüme flicke!»

Hinter den Kulissen ging es weniger kuschlig zu und her. Oswald hatte den deutschen Forschungsleiter Hermann Zorn gefeuert und ihn mit Johann Giesen ersetzt, seinem Komplizen, der in Deutschland wegen Industriespionage gefeuert worden war.

Auch im Verwaltungsrat der Tochtergesellschaft FIBRON, die das Verspinnen der «Grilon»-Masse besorgte, kam es zu Konflikten und Neubesetzungen. Zwei Textilunternehmer nahmen den Hut, wobei einer erklärte, er wolle «keine Minute mehr mit den derzeit verantwortlichen Herren am gleichen Tisch zusammenarbeiten und in dieser Umgebung meine Zeit vertun.» 

Sogar die deutschen Perlon-Spezialisten probten den Aufstand. Da es in Deutschland dank des Marshallplans Richtung Wirtschaftswunder bergauf ging, sassen sie plötzlich am längeren Hebel und forderten von Oswald bessere Löhne oder gar eine Umsatzbeteiligung für die «mitgebrachten Erfahrungen». Die meisten kehrten Mitte der Fünfzigerjahre in ihre Heimat zurück, wo gute Jobs auf sie warteten. 

Die deutschen Chemiker und Ingenieure hatten nicht nur die «Grilon»-Produktion aufgebaut, sondern in Ems die Grundlage für die Herstellung von zukunftsträchtigen Plastikprodukten geschaffen. Als die Stimmbürger 1956 die weitere Subventionierung der HOVAG ablehnten, war es in erster Linie das Verdienst der deutschen Fachleute, dass Oswald das Unternehmen erfolgreich weiterführen konnte. Die Produktionsumstellung in Ems trage «goldene Früchte», jubelte die National-Zeitung 1959 und bezeichnete die HOVAG als «Schweizer Wirtschaftswunder.»

Regula Bochsler: Nylon und Napalm. Geschichte der Emser Werke und ihres Gründers Werner Oswald. Erschienen bei Hier & Jetzt 2022.Externer Link

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