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Paul Laverty liefert den Stoff, Ken Loach erzählt die Witze

Ken Loach auf der grossen Leinwand der Piazza Grande, Locarno
Grosser Genosse, nicht grosser Bruder: Ken Loach spricht vor der Vorführung seines neuesten Films "The Old Oak" zum Publikum. Locarno Film Festival / Ti-press

Der britische Filmemacher Ken Loach und der Drehbuchautor Paul Laverty haben für ihren Film "The Old Oak" auf der Piazza Grande des Filmfestivals Locarno stehende Ovationen erhalten. Im Interview sprechen sie über ihre Zusammenarbeit ‒ und ihre Befürchtungen, wenn nicht bald eine Revolution stattfindet.

Eine Szene in «The Old Oak» (die alte Eiche) zeigt eine Gruppe von Menschen, die sich in einem heruntergekommenen Hinterzimmer eines alten Pubs Fotos von sich selbst ansehen. Eine syrische Flüchtlingsfrau hat all diese Fotos gemacht; sie sagt, das Fotografieren habe ihr Hoffnung gegeben.

Unscheinbare Momente auf der Strasse, Szenen vom Coiffeurbesuch – einfache, alltägliche Dinge, von denen man nicht denken würde, dass sie wichtig genug sind, um sie auf die grosse Leinwand zu bringen.

Doch all diese Menschen scheinen von einem kollektiven, tiefen Glück überwältigt zu sein. Die Menschen auf dem Bildschirm im Hinterzimmer sind ihr kleines Leben, ihre Nachbarschaft; es ist ihr düsteres, von Not geplagtes Dorf.

So könnte man Ken Loachs Filmografie beschreiben. Sein Kino ist ein Kino der Repräsentation. Er bringt die Geschichten von Menschen auf die Leinwand, die selten im Scheinwerferlicht stehen: marginalisierte Gemeinschaften, Menschen, denen die Gesellschaft den Rücken zugekehrt hat, Individuen, die vom System ausgebeutet werden und durch seine Maschen fallen.

Mit seinen Filmen, die sich durch starke lokale Akzente und soziales Engagement auszeichnen, ist Loach Grossbritanniens bedeutendster Regisseur der Arbeiterklasse.

Mit 87 Jahren würde man erwarten, dass Loach eher ein ruhiger, zurückhaltender Mensch geworden ist. Doch wenn er spricht, ist sein Tonfall eindringlich. Er ist sich nicht nur bewusst, wie es um die Welt steht. Er mischt sich auch immer noch unvermindert ein.

«Hoffnung ist politisch», sagt er in einem Kontext, in dem rechte Bewegungen weltweit die Ängste der Arbeiterklasse ausnutzen. «Wenn man sie hat, wenn man zuversichtlich ist, kann man etwas verändern. Wenn man diese Hoffnung nicht mehr hat, denkt man, dass die Welt zu schwierig ist, dass die Feinde zu stark sind. Dann werden die Menschen verzweifelt.»

Und weiter: «In diesem Moment kommen die Rechten ins Spiel. Dann kommen die Rassisten. Und dann suchen die Leute nach einfachen Antworten. Man braucht also Hoffnung, um etwas zu verändern. Wenn man keine Hoffnung hat, wird man nichts tun, wird man sich nicht organisieren. Politisch braucht man Hoffnung», sagt der Filmemacher.

Ken Loach und Paul Laverty
Champions der Arbeiterklasse: Ken Loach (links) und Paul Laverty. Locarno Film Festival / Ti-press

Die Stimme des Autors

Hinter Loachs Worten und Bildern steht auch sein Drehbuchautor Paul Laverty, der schottisch-irische Wurzeln hat. Seit 1996 arbeitet das Duo zusammen. Wenn man Laverty sprechen hört, hat man das Gefühl, eine der Figuren zu hören, die er geschaffen hat. Auch er hat sich eine kämpferische Unbekümmertheit bewahrt. Die beiden rühmen sich, seit 30 Jahren täglich über alles Mögliche zu reden, vom Leben über Politik bis zum Fussball.

«Wir sind wie ein grossartiges Doppelpack», scherzt Laverty. «Ich liefere den Stoff und Ken erzählt die Witze.» Loach antwortet bescheiden, aber humorvoll: «Ich mache die Vorschläge, und meistens sind sie nicht gut.» Aber beide betonen, wie wichtig ihre geteilten Werte sind.

Ähnlich geht Loach auch mit seinen Schauspielerinnen und Schauspielern um – er sucht immer nach einem Gefühl der Verwandtschaft. Alle können in seinen Filmen eine Rolle spielen, egal woher sie kommen und ob sie eine Schauspielausbildung haben oder nicht.

Loach sagt, dass er sogar sehr glücklich ist, wenn er Menschen in lokalen Kneipen an Vorführabenden finden kann. Und er ist sehr daran interessiert, Menschen aus dem Gewerbe zu engagieren. «Wichtig ist nur, dass sie echt sind», sagt Loach.

Am wichtigsten ist jedoch, dass sowohl Loach als auch Laverty die politischen Unruhen in vielen Teilen der Welt mit grosser Vorsicht betrachten. Die Streiks von Drehbuchautorinnen und Schauspielern, die derzeit in den USA stattfinden, werden von ihnen eindeutig unterstützt.

«Es geht immer darum, wer die Macht hat, wer die Kontrolle hat. Die grossen privaten Investoren werden immer die Macht haben und immer jene Filme machen, die sie wollen. Wir sollten mit den Filmen auffallen, die wir machen. Die Autorinnen und Autoren werden genauso behandelt wie in einer industriellen Situation. Und in der Industrie brauchen wir faire Bezahlung und bessere Bedingungen», sagt Loach.

«Warum schreibt man, was die Arbeitgebenden einem sagen? Weil es ein kapitalistisches Unternehmen ist», beantwortet Loach gleich selbst seine Frage.

«Es gibt immer diesen Widerspruch im Film: Auf der einen Seite ist es eine Kommunikation zwischen Filmemachenden und Publikum, auf der anderen Seite ist es eine Ware zwischen Investierenden und Kundschaft. Wir sehen das Publikum, die sehen die Kundschaft. Wir sehen Aufmerksamkeit, sie sehen Geld.»

Externer Inhalt

Noch schlimmer sei es mit den Streamingdiensten geworden, die ständig auf der Suche nach einer Zauberformel seien. «Filme sollten die Vielfalt einer guten Bibliothek haben. Aber was wir haben, ist meistens ein Regal mit Flughafenromanen. Begrenzt durch die Leute, die investieren wollen.»

Es überrascht nicht, dass Laverty dem zustimmt. «Unternehmen werden immer schnellere Wege finden, Geld zu verdienen. Die grosse Frage ist jetzt die künstliche Intelligenz (KI) und wie sie eingesetzt wird. Ich meine, es ist ein faszinierendes Werkzeug, man kann sehen, wie brillant es ist», sagt er.

«Aber es lohnt sich zu fragen, wie all das Wissen, das sie verarbeiten, genutzt wird und woher es kommt. [Die Unternehmen] werden auch einen Weg finden, KI zu privatisieren und zu monetarisieren, so wie sie es mit den Daten tun, die heute gesammelt und verkauft werden.»

Die Glanzzeiten des Fernsehens sind vorbei

Die aktuelle Form des Fernsehens ist ein weiteres Thema, mit dem sich Loach beschäftigt. Er begann seine Karriere in den 1960er-Jahren mit Filmen für das Fernsehen. Wenn man ihn aber fragt, wie er heute zu diesem Medium steht, sieht er die Dinge eher düster. Vor allem, wie sich die Dynamik in Bezug auf die BBC, die British Broadcasting Corporation, als Institution zur Unterstützung des britischen Kinos verändert hat.

«Die BBC ist ein verlängerter Arm des Staats. Sie bietet ein gewisses Mass an Unabhängigkeit, solange man diese nicht überstrapaziert. Die BBC ist ein Symbol der britischen herrschenden Klasse, sehr kultiviert, sehr gnädig, bereit, über sich selbst zu lachen, aber sie ist auch sehr rücksichtslos», sagt er.

Ken Loach auf dem Filmset
Ken Loach am Set von «The Old Oak». Mit 87 Jahren sagt der Regisseur, dass dies definitiv sein letzter Film sei. © Sixteen Films Limited, Why Not Productions

«In den 1960er-Jahren gab es eine relativ stabile Wirtschaft und eine eher sozialdemokratische Gesellschaft. Die Dienstleistungen waren in öffentlicher Hand, die Menschen waren sehr tolerant», fährt Loach fort.

«Ich hatte damals grosses Glück. Eine Art jugendlicher Dissens wurde toleriert. Die Manager waren überzeugt, dass wir keinen Schaden anrichten könnten, so als ob sie sagten: ‹Ihr könnt machen, was ihr wollt, und alles bleibt, wie es ist.›.»

Loach erweitert das Szenario. «In den Thatcher-Jahren wurden immer mehr Dinge verboten, um die Arbeiterklasse und die Gewerkschaften zu entmachten. Während des Bergarbeiterstreiks zum Beispiel wurde jede Erwähnung des Streiks verboten, mit Ausnahme der Gewalttätigkeit der Bergarbeiter. Es gibt also eine Dynamik: Wenn diese öffentlichen Institutionen bedroht sind, schränken sie sich ein. Und wenn sie selbstbewusst sind, sind sie tolerant», sagt er.

«Jetzt sind sie überhaupt nicht mehr tolerant, weil die Gesellschaft auseinanderbricht. Es ist eine sehr restriktive Zeit für Leute [in der Filmbranche]. Als wir in unseren Zwanzigern arbeiteten, kamen wir mit vielen Dingen durch, mit denen wir heute nicht mehr durchkommen würden. Und die Kinder, die heute arbeiten, kommen mit vielem nicht mehr durch.»

Eine Filmszene in einem englischen Pub
In dem namenlosen nordenglischen Dorf, in dem «The Old Oak» das letzte verbliebene Pub ist, verunsichert die Ankunft syrischer Flüchtlinge die entrechtete lokale Arbeiterklasse, deren Rückgrat Margaret Thatcher in der Niederschlagung der Bergarbeiterstreiks der 1980er-Jahre gebrochen hat. Im Bild die syrische Schauspielerin Ebla Mari (Mitte). Ihre Figur und die des Pubbesitzers, gespielt von Dave Turner, sind die Dreh- und Angelpunkte dieses sozialistischen Märchens, in dem sich Flüchtlinge und die britische Arbeiterklasse die Hand reichen. ©sixteen Oak Limited, Why Not Productions

Der soziale Raum

Was die Zukunft des Kinos betrifft, so erinnert Laverty auch daran, wie emotional es war, als 8000 Menschen auf der Piazza Grande in Locarno gemeinsam «The Old Oak» anschauten und den Spielfilm mit stehenden Ovationen quittierten.

So wie das Pub im Film den Menschen im Dorf ein wichtiges Gemeinschaftsgefühl vermittelt, ist das Kino ein Ort der kollektiven Erfahrung. Aber Kinos als physische Räume seien in grosser Gefahr, ebenso wie das unabhängige Kino, warnt Laverty. Er verweist darauf, dass beispielsweise Edinburgh kürzlich sein berühmtes Filmhouse verlorenExterner Link hat.

«So viele Generationen von Studierenden werden keine Erfahrung mit echtem unabhängigem Kino mehr haben. So vieles ist bedroht, und wir müssen dafür kämpfen, es zu schützen. Das ist auch eine politische Entscheidung», sagt der Drehbuchautor.

Aber nicht nur das Kino sei in Gefahr, sondern der Zustand der Welt insgesamt. Auf die Frage, ob sie noch an eine Revolution glauben, antwortet Laverty: «Was passiert, wenn es keine Revolution gibt?»

«Können Sie sich vorstellen, was in 50 Jahren sein wird, wenn wir so weitermachen? Wenn wir nichts tun, werden wir in grossen Schwierigkeiten stecken. Und das sagen nicht wir Filmemachenden, das sagt die Wissenschaft – die sagen uns das schon seit 40 Jahren. Eigentlich waren es Forschende von BP und Shell, die uns als erste davor gewarnt haben, was passieren wird – und sie wussten es und haben nichts getan. Das ist kriminell.»

Manchmal hat man den Eindruck, dass man mit zunehmendem Alter müde wird und den Kampf aufgibt. Aber Ken Loach und Paul Laverty stehen immer noch an vorderster Front. Ihre Aussagen erzeugen eine unmittelbare und intensive Solidarität. Was sie zeigen und worüber sie sprechen, lässt sich ganz einfach zusammenfassen: Sie kümmern sich einfach um die Menschen.

Editiert von Eduardo Simantob, Übertragung aus dem Englischen: Christian Raaflaub

Porträt von Dora Leu
Personal archive

Dora Leu ist eine rumänische Filmkritikerin und gelegentliche Filmemacherin. Neben Film hat sie auch Kunstgeschichte studiert. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören die japanische New Wave, Essayfilme und experimentelles Kino. Sie hat eine Vorliebe für Musikvideos und irische Post-Punk-Bands.

Übertragung aus dem Englischen: Christian Raaflaub

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