Pfahlbauten: Kandidaten für das Unesco-Welterbe
Pfahlbauten in sechs Alpenländern sollen künftig zum UNESCO-Welterbe gehören. Unter Führung der Schweiz wird ein Dossier erstellt, das bis im Januar 2010 der UNO-Organisation für Bildung, Wissenschaft, Kultur und Kommunikation übergeben werden soll.
Die ersten archäologischen Funde von Pfahlbauten wurden 1854 in Obermeilen am Zürichsee gemacht. Der Gelehrte Ferdinand Keller erkannte in den Pfahlwerken die Bedeutung als Zeugen prähistorischer Siedlungen.
Heute werden im Alpenraum von Frankreich bis Slowenien insgesamt rund 1000 Pfahlbaufundstellen gezählt, die zwischen 5000 und 800 vor Christus errichtet wurden.
«Die Pfahlbauersiedlungen zählen zu den bedeutendsten archäologischen Stätten Europas», sagt Christian Harb, Geschäftsführer des Vereins Palafittes. «Geschützt durch das Wasser blieben organische Materialien wie Holz, Essresten, Gebrauchsgegenstände und Kleider bis heute in perfektem Zustand erhalten und ermöglichen damit eine präzise Rekonstruktion der Geschichte.»
Mythos Pfahlbauer
In der Schweiz datieren die ältesten Pfahlbauersiedlungen um 4300 vor Christus. Einige liegen versteckt auf dem Seegrund, andere befinden sich auf dem Land oder in urbanen Zentren.
Das Bild von Dörfern auf Seeplattformen und Holzpfählen fasziniert eine breite Öffentlichkeit. Die Pfahlbauer wurden von Wissenschaftern, Politikern und Künstlern quasi zum Mythos erhoben, sie wurden zum Symbol der jungen Eidgenossenschaft auf der Suche nach ihrer Identität. Man war der Ansicht, dass die Pfahlbaukultur den «Sonderfall Schweiz» bis zu den Ursprüngen moderner Zivilisation bestätigte.
Korrigiertes Bild
In den letzten Jahrzehnten wurde das landläufige Pfahlbauer-Bild mit Hilfe moderner wissenschaftlicher Techniken und Analysen korrigiert: Die Pfahlbauten standen nicht im Wasser, sondern am Seeufer und in Feuchtboden-Gebieten. Diese Standortwahl diente namentlich dazu, fruchtbares Ackerland zu gewinnen.
Die Pfahlbauten dienten als Schutz vor dem wechselnden Wasserstand. Sie gaben den Nomadenvölkern auch eine gewisse Stabilität, wie Christian Harb sagt.
Der Fund in Obermeilen sei nicht nur von unschätzbarem wissenschaftlichen Wert. Er komme einer Revolution für die Archäologie in Europa gleich, denn er markiere in gewissem Sinn den Anfang der prähistorischen Forschung.
«Die Archäologen mussten sich nicht mehr mit der Welt der Gräber und Toten begnügen, sondern hatten Gegenstände in den Händen, die über die Lebensgewohnheiten, Ackerbau und Tierhaltung der Pfahlbauer Auskunft geben.»
Siedlungen in Gefahr
Wie für andere Kulturgüter stellen auch für die Pfahlbauten die zunehmende Urbanisierung und der Klimawandel eine Bedrohung dar.
«Die Bautätigkeit, der Bootsverkehr, die Urbarmachung und der gesunkene Seespiegel gefährden die Überreste dieser Jahrtausende alten Siedlungen. Nur durch eine Sensibilisierung der Öffentlichkeit kann das Schlimmste verhindert werden», sagt Claude Frey, Präsident des Vereins Pallafittes.
Auf eine Sensibilisierung der Bevölkerung ziele denn auch die Kandidatur für eine Aufnahme in die Liste des Unesco-Weltkulturerbes, sagt Anne Weibel, Pressesprecherin beim Bundesamt für Kultur. «Das Unesco-Label wäre nicht nur für den Schutz dieser archäologischen Stätten förderlich, es würde auch die Aufmerksamkeit erhöhen und die Bevölkerung für die Wichtigkeit der Erhaltung dieses kollektiven Erbes sensibilisieren.»
Le Corbusier
Die Unesco-Welterbe-Kandidatur für die Pfahlbauten soll im Januar 2010 eingereicht werden. Mit dem Entscheid der Unesco wird im Sommer 2011 gerechnet.
Bereits 2010 beurteilt das Welterbe-Komitee der Unesco einen weiteren Antrag: Die überarbeitete Sammelbewerbung für die Aufnahme des Werks des schweizerisch-französischen Architekten Le Corbusier (1887-1965). Die Unesco hatte den Entscheid über die Eintragung im Juni verschoben.
Diese Kandidatur wurde gemeinsam von Argentinien, Deutschland, Belgien, Japan und der Schweiz – unter der Ägide von Frankreich – aufgelegt. Sie umfasst 22 Gebäude, die von der unverwechselbaren Kreativität und Vielseitigkeit von Le Corbusier zeugen.
Vier davon befinden sich in der Schweiz: Die Villa Jeanneret-Perret und Schwob in La Chaux-de-Fonds, das ‹Kleine Haus› am Genfersee und das Haus Clarté in Genf.
Stefania Summermatter, swissinfo.ch
(Übertragung aus dem Italienischen: Corinne Buchser)
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Welterbe (Unesco)
156 Fundstellen in sechs Alpenländern wurden für die Kandidatur für eine Aufnahme ins Unesco-Welterbe ausgewählt.
82 Fundorte – das sind mehr als die Hälfte – befinden sich in der Schweiz.
In Deutschland und in Italien wurden je 25 Fundstellen ausgewählt, in Frankreich 15, in Österreich 8 und in Slowenien eine.
Das Dossier, das unter Führung der Schweiz erstellt wurde, soll bis im Januar 2010 der Unesco übergeben werden. Der Entscheid wird im Sommer 2011 erwartet.
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