Weissrussland – ein Land, gefangen in seinem Tagtraum
In seinem neuen Buch "Belarus Dreamland", Traumland Weissrussland, hat sich der Genfer Fotograf Nicolas Righetti in der letzten "Soft Diktatur" Europas umgesehen.
Righetti erforscht seit dreissig Jahren Diktaturen. In seinem neuen Buch nimmt er uns mit in ein Land, in dem stalinistische Architektur und Militärparaden auf Fast Food, Cheerleaderinnen und Schönheitskonkurrenzen prallen.
Auf seinen nicht weniger als sieben Reisen innerhalb zweier Jahre hat der Genfer beobachtet, wie das weitgehend unbekannte, lange verschlossene Land sich langsam öffnet. Und zwar sowohl nach Westen als auch nach China.
Wir treffen den Fotografen in seinem Atelier im Pâquis, dem multiethnischen Viertel in der internationalen Stadt Genf. Seine unzähligen Reisen machten Nicolas Righetti international bekannt. 2007 gewann er mit einem Bild des turkmenischen Diktators Saparmurat Niyazov den renommierten World Press Photo Award.
An diesem Dezembernachmittag gleicht sein Atelier einem Bienenhaus – Righetti ist mit dem Finish an seiner neuen Publikation Belarus Dreamland beschäftigt.
Das Auge des Besuchers fällt auf eine vergoldete Büste von Ho Chi Minh, dem mythischen Gründer der Kommunistischen Partei Vietnams und der Demokratischen Republik Vietnam. Seit 30 Jahren üben die kommunistischen Länder, untergegangene wie noch bestehende, eine Faszination auf den Genfer Fotografen aus, der meist nur mit dem Rucksack unterwegs ist.
Auslöser war vielleicht seine erste Reise: 1989 reiste er mit der Transsibirischen Eisenbahn nach China. Kaum in Peking dem Zug entstiegen, wurde er unmittelbarer Zeuge des Tiananmen-Massakers. Schockiert musste er mit ansehen, wie vor seinen Augen Menschen im Kugelhagel und unter den Panzern der Volksarmee starben. –
Kurz darauf lanciert er seine Karriere mit Bildern im ersten Reiseführer über Äthiopien, der 1994 in der Olizane Edition erschien. Er beginnt eine Reihe von mutigen, mitunter auch gefährlichen Reisen.
Deren Resultate sind Bildbände über Nordkorea, Turkmenistan, Transnistrien oder den syrischen Diktator Baschar al Assad. Und jetzt ist die Reihe an Weissrussland.
Das gut gepflegte Erbe Stalins
«Dieses Buch ist eine Fortsetzung der bisherigen Arbeiten», sagt Righetti. Zunächst habe er sich für Präsident Alexander Lukaschenko interessiert. Dieser ist seit 25 Jahren an der Macht und lässt sich nächstes Jahr erneut wählen. Der Fotograf erzählt:
«Aber im Laufe meiner Reisen – zwischen 2017 und 2019 insgesamt deren sieben – bin ich aber von der Idee weggekommen, den Diktator zu fotografieren, und ich konzentrierte ich mich stattdessen auf Militärparaden. Und die sowjetische Architektur, genauer: die Architektur unter Stalin, ist mächtig und reich an Säulen, weil sie vom kaiserlichen Rom inspiriert ist.
Die Bauten stammen aus den 1950er-Jahren, werden aber ständig renoviert. Dies im Gegensatz zur benachbarten Ukraine. Dort werden alle Statuen zerstört, um die Spuren der sowjetischen Vergangenheit und damit die Geschichte auszulöschen.»
Doch wieder zu Weissrussland: Der Fotograf hat in den letzten drei Jahren eine Öffnung der ehemaligen Sowjetrepublik beobachtet. «Es ist kein kommunistisches Land mehr, auch wenn wir dort die letzten Kolchosen der Welt finden, die ich besucht habe. Seit der Verhängung internationaler Sanktionen gegen Russland nach der Krim-Annektion ist die Regierung gezwungen, sich anderen Ländern, insbesondere dem Westen, zu öffnen», sagt Nicolas Righetti.
Westliche Medien würden von Weissrussland als der letzten Diktatur in Europa sprechen, und sie hätten Recht. «Aber die Weissrussinnen und Weissrussen, inklusive meine Führerin, ein 20-jähriges Model, sprechen lieber von einer ’schönen Diktatur›.»
Chinesische Armee am Tor zu Europa
Die junge Weissrussin, die den Schweizer Fotografen begleitet hat, amtierte zwar in offizieller Mission. Aber dies ist keine zwingende Bedingung mehr. Touristen erhalten nun ein einmonatiges Visum und können sich frei im Land bewegen.
Righetti aber hat sich als Fotograf bewusst für eine Begleitung entschieden. Denn er wollte nicht an der Oberfläche der Dinge kratzen, sondern Krankenhäuser und Schulen auch von Innen sehen, Feierlichkeiten besuchen und ins Zentrum der Macht vorzustossen.
«Ich konnte den Diktator aus einem Meter Entfernung fotografieren und seine drei Söhne grüssen», erzählt er. «Lukaschenko ist ziemlich schlau, er ist zwar immer bei seinem grossen russischen Bruder, aber er spielt auch die Karten Europa und China. Ich war dreimal an den Militärparaden zum 3. Juli, dem Tag der Nationalen Unabhängigkeit Weissrusslands, und zweimal war China mit seiner Armee als Gast dabei.» Oder wie er es auf den Punkt bringt: «Die chinesische Armee defilierte in Minsk vor den Toren Europas – sie rückt näher und näher!»
Das Land ist eine «sanfte Diktatur», die den Schein wahrt. Und auch Träume verkaufen will. Im Zentrum von Minsk, der Hauptstadt Weissrusslands, liegt das Dreamland, ein Vergnügungspark für Kinder. Zum diesem gehört auch ein Miniatur-Weissrussland.
Nicolas Righetti wollte auch das sehen. «Es ist sehr kitschig und bunt. Auf meinen Reisen aber habe ich kein Traumland gesehen, wie sie es sich vorstellen. Dreamland ist der Traum, den sie gerne zeigen würden, aber er existiert nicht.»
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