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Pius Knüsel: «China dürstet nach Kultur»

Pius Knüsel, Direktor von Pro Helvetia (links) und der Präsident der Stiftung, Mario Annoni. Keystone

Viele Chinesen mögen die Musik, die bildenden Künste und Filme aus der Schweiz. Dank der Unterstützung von Pro Helvetia können sie daran teilhaben, wie ihr Direktor Pius Knüsel erklärt.

Seit zwei Jahren unterhält Pro Helvetia ein Kulturaustauschprogramm mit China. Die Stiftung hat nun auch einen Stützpunkt in Schanghai eröffnet. swissinfo.ch hat sich mit Pius Knüsel, dem Direktor von Pro Helvetia, unterhalten.

swissinfo.ch.: Nach zwei Jahren Kulturaustausch mit dem Titel «Swiss Chinese Explorations» (Schweizerisch-Chinesische Erforschung) wird die Schweiz einen definitiven Stützpunkt in Shanghai eröffnen. Welche Aspekte der Schweizer Kultur werden Sie in China zeigen?

Pius Knüsel: Fast alle Aspekte, die möglich sind, aber dies hängt stark von den Bedürfnissen Chinas ab. Die Erfahrungen, die wir seit zwei Jahren machen, haben gezeigt, dass grosses Interesse für die visuelle Kunst, Gegenwarts- und numerische Kunst vorhanden ist – und für die Musik. Man stösst hier auf offene Ohren, und auf ein enormes Interesse für Musik aus der Schweiz, in allen ihren Arten. Tanz ist auch sehr beliebt.

Was die Literatur betrifft, suchen wir Verleger, die bereit sind, Schweizer Werke zu veröffentlichen, natürlich übersetzt. Und ich glaube, wir werden Erfolg haben.

Theater allerdings ist sehr schwierig, denn es ist eng mit der Sprache verbunden. Zwar haben alle grossen Bühnen die Möglichkeit, Untertitel zu zeigen, aber es ist trotzdem nicht das Gleiche.

Ein sehr fruchtbares Feld im Kulturaustausch mit China ist das Kino. Wir konnten rund hundert Filme, einige von ihnen zwar sehr kurze, an grossen Festivals platzieren. Und wir haben sogar einige Preise gewonnen.

swissinfo.ch: Sie sprechen, wie wenn die Chinesen ein Volk wären, das nach Kultur dürstet?

P.K.: Ja, es ist ein Land, das seinen Platz in der Welt noch sucht, ein Land, das daran ist, seine Kultur neu zu erfinden. Sie wurde komplett zerstört.

China ist deshalb in einer Experimentierphase. Und ich denke, dass es am besten ist, in dieser Phase einen Kulturaustausch zu lancieren. Weil es ein Interesse für alles gibt, den Willen, zu investieren, neue Projekte zu erfinden. Im Vergleich zu dem, was in den europäischen Ländern läuft, ist dies in China extrem.

swissinfo.ch.: In der Schweiz interessiert sich Pro Helvetia mit dem Programm «GameCulture» für Videospiele. Glauben Sie, dass es da ein Potential gibt, obwohl diese Industrie in den Händen von multinationalen Firmen ist?

P.K. Wir sind überzeugt, dass es da ein grosses Potential gibt. Eine Untersuchung während eines Jahres hat gezeigt, dass es fast 200 Schweizerische Zeichner gibt, von denen die Mehrheit im Ausland arbeitet. Aber sie haben sich bei uns gemeldet.

Was die Entwicklung von Spielen in der Schweiz betrifft, ist man erst am Analysieren und Experimentieren. Die Idee ist, dass wir Modelle zur Förderung entwickeln. Nach dem Wettbewerb kann man mehr dazu sagen.

Es ist wie beim Film. Die Schweiz hat keine Chance, sich mit Hollywood zu vergleichen, aber man gibt dem Schweizer Film eine Unterstützung, auch, um eine gewisse Kompetenz in der Schweiz zu behalten und den kommerziellen Produktionen etwas Idealismus oder Intelligenz entgegenzusetzen.

swissinfo.ch: In Wien hat der Künstler Christoph Büchel einen Swingerclub ins Untergeschoss der Sezession, einem hochkarätigen Ausstellungsgebäude in Wien, platziert. Am Tag war es ein Museum und in der Nacht ein Vergnügnsort. Die Öffentlichkeit hat nicht nachvollziehen können, wieso Pro Helvetia dies unterstüzt hat.

P.K. Die Wiener Sezession, um die Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert konzipiert, ist der einzige Ort, der ganz der Gegenwartskunst gewidmet ist. Schon die Eröffnung war damals ein Skandal, wegen dem «Beethoven-Fries» von Gustav Klimt, auf dem viele nackte Frauen zu sehen sind. Heute empfindet dies die ganze Welt als ein Meisterwerk, die zum kulturellen Erbe von Wien gehört.

Die Sezession wird von einer Künstlervereinigung verwaltet. Sie ist daher einer der offensten Orte von Europa. Diese Vereinigung stellt regelmässig in der Schweiz aus.

2010 haben sie Christoph Büchel eingeladen. Er macht Rauminstallationen und ist in der ganzen Welt bekannt. Seine Installationen werden immer stark kritisiert und haben einen Zusammenhang mit der Gegenwart. Er stellt beispielsweise Busse aus, die durch eine Bombe zerstört wurden, wie dies in Irak oder in Afghanistan der Fall ist. Damit will er dem Publikum, das eingeladen ist, durch die Installation hindurchzugehen, zeigen, was die Wirkung eines solchen Attentats ist.

In Wien hat er ein Projekt realisiert, das sich um Hygiene dreht, physische und moralische. Was ist sauber, was ist schmutzig? Das ist die Grundfrage. Was das Projekt aussergewöhnlich macht, ist, dass der Club in der Nacht in Betrieb ist. Alle können sich dort treffen und an gemeinsamen Aktivitäten teilnehmen, wenn es welche gibt.

«Live-Sex» in einem Museum, ist das erlaubt oder nicht? Und wenn es nicht erlaubt ist, warum gibt es diese Art Etablissements in der Realität? Alles dreht sich um die Frage der Doppelmoral.

swissinfo.ch:Wegen der Ausstellung von Thomas Hirschhorn in Paris hat Pro Helvetia eine Million Franken weniger zugesprochen erhalten. Befürchten Sie nicht, dass das Projekt von Büchel wieder eine Reaktion des Parlaments hervorruft?

P.K.: Sicher, dieses Risiko besteht, aber wenn die Befürchtung, vom Parlament bestraft zu werden, sich durchsetzt, könnten wir nur noch Tourneen von Jodlerclubs und Ausstellungen von Ferdinand Hodler unterstützen.

Es kann nicht die Aufgabe von Pro Helvetia sein, zu definieren, wie weit Kunst gehen kann. Die künstlerische Welt hat eine Idee davon, was Kunst sein könnte. Und niemand – sicher nicht Pro Helvetia – sagt, dass die Kunst nur das sein kann. Aber eine solche Provokation ist ein Teil der künstlerischen Welt.

Christophe Büchel gehört zur heutigen künstlerischen Welt, zu der auch kleine Gemälde gehören, die wir zur Zeit in China ausstellen. Sie haben dort grossen Erfolg. Zur künstlerischen Welt gehören auch Installationen wie diejenigen, die er gemacht hat. Man muss das ganze Spektrum abdecken, man kann nicht einen Teil weglassen, der so wichtig ist wie die Installationskunst.

Marc-André Miserez, swissinfo.ch
(Übertragung aus dem Französischen: Eveline Kobler)

Die Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia ist eine Stiftung öffentlichen Rechts mit dem Auftrag, kulturelle Bestrebungen von gesamtschweizerischem Interesse zu fördern. Sie wurde 1939 gegründet und wird vollumfänglich vom schweizerischen Bundesstaat finanziert. Ihr Jahresbudget beträgt derzeit 34 Millionen Schweizer Franken.

Die Stiftung ist bestrebt, für Schweizer Kulturschaffende die bestmöglichen Bedingungen für die Entstehung und Verbreitung ihrer Werke zu schaffen. Sie verhilft ihnen im In- und Ausland zu einem überzeugenden Auftritt und ermöglicht Begegnungen mit Kulturschaffenden anderer Länder.

Regelmässig setzt Pro Helvetia thematische und geographische Akzente. In jüngster Zeit waren das Volkskultur, Nachbarländer, Austausch mit Japan. In den kommenden Jahren liegt der Fokus auf dem Austausch mit China, auf der Kultur der Computerspiele sowie auf der Frage des Verhältnisses von Kultur und Staat.

Organisation und Aufgaben der Stiftung sind im Pro-Helvetia-Gesetz von 1965 festgeschrieben.

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