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Plädoyer für eine menschlichere Architektur

Der Schweizer Pavillon in Venedig. swissinfo.ch

Unter dem Thema "Common Ground" zieht die 13. Biennale für Architektur in Venedig eine ausgewogene Bilanz verschiedener Bauweisen. Dieses Jahr wurde sie vom englischen Architekten David Chipperfield gestaltet.

Der Schweizer Pavillon zeigt die Ausstellung «Und nun gemeinsam». Sie wurde vom Architekten und ETH-Professor Miroslav Šik zusammengestellt.

Sowohl das zentrale Thema als auch der Schweizer Beitrag üben Kritik an der individualistischen Architektur und treten für den «Dialog» zwischen den Beteiligten, das heisst zwischen den Architekten und den Bewohnern einer Stadt, ein. Der historische Kontext soll bei der Ausarbeitung von Projekten berücksichtigt werden. Dabei soll gleichzeitig Wert hinzugefügt und die Lebensqualität verbessert werden.

Die Herausforderung besteht in der Integration der Architektur innerhalb des urbanen Geflechts. Miroslav Šik nützt die Gelegenheit, um sein Projekt «Analoge Architektur 1986 – 87» nochmals vorzustellen: Die Architektur des Alltäglichen sollte Volkskunst und nicht elitär sein. Laut ihm muss partizipative Architektur gefördert und die isolierte abgeschafft werden: «In den vergangenen 20 Jahren sahen wir eine Zunahme skulpturaler Architekturen. Ich erinnere an Bilbao; schöne Formen, doch sie sündigen wegen des fehlenden Dialogs mit der Umgebung. Sie werden zwar in Zeitschriften abgebildet, aber integrieren sich nicht in ihre Umgebung. Die neue Generation ist in dieser Welt aufgewachsen. Für sie wird es nicht leicht sein. Ich bin Architekt und Professor. Es hat den Anschein, als ob alles schon gemacht sei. Ich hoffe, dass sie sich dafür einsetzen, dieses Modell nicht zu wiederholen», sagt Šik gegenüber swissinfo.ch.

Tradition und Innovation

Der gebürtige Tscheche folgt den Spuren seines Lehrmeisters, des italienischen Architekten Aldo Rossi, dessen Schüler er an der ETH Zürich war. Er benützt dieselbe Technik der «Collage», um im Schweizer Pavillon das Thema «Und nun gemeinsam» zu illustrieren. Der Kurator verwandelte die Wände in riesige Mauern mit Fotografien von Bauten der letzten 15 Jahre in der Schweiz.

Verschiedene Bauten führen unter sich einen Dialog und decken die Spannung zwischen der Treue zum architektonischen Stil und der Anpassung der Vergangenheit an die Anforderungen der Gegenwart auf. Die Werke wurden in verschiedenen Städten entworfen, widerspiegeln jedoch dank ähnlicher Konzepte, wie Einklang mit der umgebenden Landschaft oder Einfügung in bereits Bestehendes und die Berücksichtigung des Volumens zwischen den Bauten, Harmonie.

«Ich sage immer, dass jedes Gebäude mit seiner Nachbarschaft in einer Beziehung stehen muss. Doch dies zu verwirklichen ist ein Problem. Man kann Farben oder das Volumen benützen, kurz, es gibt viele Mittel, um diesem Wunsch nachzukommen», sagt Miroslav Šik.

Zwei Architektenpaare konzipierten die ausgewählten Bauten. Axel Fickert und Kaschka Knapkiewiecz aus Zürich entwarfen die Wohnsiedlung Klee. Quintus Miller und Paola Marana aus Basel stellen ihre Ideen zu Wohn- und Bürogebäuden und historischen Hotels vor. Die Werke zeigen, was es braucht, damit Wechselbeziehungen entstehen und wie die kollektive urbane Erinnerung einer Stadt durch die Rückgewinnung verlassener Grundstücke und Gebäude integriert werden kann. Das Rezept, Treue zur Vergangenheit und Erneuerung, scheint ein Leichtes zu sein, ist es aber nicht: «Es ist nicht leicht, etwas Neues zu schaffen. Geschichte muss besser gelehrt und gelernt werden. Heute ist das Bewusstsein dessen, was gestern existiert hat, nicht mehr ausreichend», sagt Kaschka Knapkiewicz gegenüber swissinfo.ch.

Verschiedene Räume

Die Präsenz der Schweiz an der Biennale beschränkt sich nicht auf die Ausstellung im Schweizer Pavillon, sondern durchläuft Venedig wie dessen Kanäle. In den Schuppen des Arsenale sind bekannte Schweizer Architekten anzutreffen, die vom Kurator der Biennale David Chipperfield eingeladen wurden.

Zusammen mit Architekten anderer Länder stellen die Schweizer ähnliche Projekte vor, auch wenn sie für eine ganz andere Wirklichkeit entworfen wurden. «Wir wollen das gemeinsame Territorium betonen, welches diesem Beruf trotz anscheinend unterschiedlicher architektonischer Werke eigen ist», sagt David Chipperfield. Zu den Teilnehmern gehören so bekannte Namen wie Mario Botta, Valerio Ogiati und Herzog&De Meuron.

Die Schweizer sind auch an der Parallelausstellung «Traces of Centuries & Future Steps» zu Gast, welche die holländische Stiftung «Global Art Affairs» organisiert hat. Die Schweizer Architekten und Architekturbüros Men Duri Arquint, Barbara Holzer&Tristan Kobler; Graeme Mann&Patricia Capua Mann+Ueli Brauen&Doris Wälchli sowie Luca Selva gehören zu einer wenig bekannten Gruppe von 60 Architekten aus 26 Ländern.

Alle Arbeiten zeichnet die Fähigkeit aus, originelle Standpunkte zu vertreten und jenseits der eigenen Grenzen mit anderen Kulturen zusammenzuarbeiten.

Weiter findet im Palazzo Trevisan degli Ulivi der Salon Suisse statt, wo theoretische Ansätze der Architektur zur Sprache kommen. Er wurde im Auftrag von Pro Helvetia vom englischen Kurator Guy Wilson organisiert.

Eine lange Liste von Gästen – so Miroslav Šik, Adam Caruso und Quintus Miller – sollen zum «swiss touch» in der Architektur Red und Antwort stehen und so den Dialog zwischen dem Publikum und den Architekten fördern.

Gemeinsam ist allen die Idee, die lokale Identität zu bewahren und mit neuen Techniken und Materialien und Avantgarde-Modellen zu experimentieren.

Šik wurde 1953 in Prag geboren und emigrierte 1968 in die Schweiz. Von 1973 -1979 studierte er an der ETH Zürich unter dem italienischen Architekten Aldo Rossi (1931 – 1997).

Seit 1999 ist er ordentlicher Professor an der ETH Zürich.

Zu seinen wichtigsten Bauten gehören das katholische Zentrum Sankt Anton in Egg; das Seniorenhaus in Neustadt (Zug) und das Haus der Musiker in Zürich.

Mit ihrem Beitrag «Torre David/Grande Horizonte» gewannen die Professoren der ETH Zürich Alfred Brillembourg und Humbert Klumpner den Preis des «Goldenen Löwen» der Biennale von Venedig 2012.

Sie untersuchten, wie sich 750 Familien in einem nicht fertig gebauten Gebäude in Caracas einrichteten.

Laut der Website der Biennale kann die Initiative der Besetzer des David-Turms als «Inspiration für die Anerkennung der Kraft informeller Gesellschaften» bezeichnet werden.

Der Bau des Turms mit 45 Stockwerken in der venezolanischen Hauptstadt wurde wegen der Wirtschaftskrise der 90er Jahre unterbrochen.

Laut Angaben der ETH bewohnen heute 750 Familien das Gebäude und installierten Wasser- und Stromversorgung.

(Übersetzung aus dem Portugiesischen: Regula Ochsenbein)

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