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Radu Jude in Richtung Hollywood: «Versucht, etwas Besseres zu machen»

Eine Frau nimmt ein Tik Tok-Video in einer Toilette auf
TikToking überall: Die Filmproduktionsassistentin Angela (Ilinca Manolache) findet inmitten der Hektik ihres Jobs immer einen Moment, um Videos für TikTok aufzunehmen. ©4 Proof Film

Das diesjährige Filmfestival von Locarno bot ein seltenes Meisterwerk: Do Not Expect Too Much from the End of the World von  Radu Jude wurde mit dem Spezialpreis der Jury prämiert. Im Interview mit SWI swissinfo.ch spricht der rumänische Regisseur über fehlgeleitete politische Korrektheit, die Kreativität von TikTok und ein Kino, das die Gegenwart in ihrer historischen Dimension erkennbar macht.

Judes neuester Film wurde auf dem diesjährigen Festival von den Kritiker:innen fast einhellig gelobt, obwohl er noch nicht in die Kinos gekommen ist.

Do Not Expect Too Much from the End of the World bietet zahlreiche Interpretationsmöglichkeiten: eine meisterhafte Kombination aus Erzähltechniken, subtilen und nicht so subtilen historischen und literarischen Anspielungen, absurden Witzen und der allgegenwärtigen Präsenz von TikTok.

Es ist ein Film über das Filmemachen, über die Prekarität der Arbeitsbedingungen im weitesten Wortsinn, aber auch innerhalb der Filmindustrie.

Es geht um die westeuropäische Ausbeutung der natürlichen Ressourcen Rumäniens ‒ und Osteuropas im weiteren Sinne ‒, die als eine moderne Form des wirtschaftlichen Kolonialismus gesehen wird. Es geht um Rumäniens kommunistische Vergangenheit und seine neoliberale Gegenwart und vieles mehr, aber vor allem geht es um die Freude am Filmemachen.

«Natürlich müssen wir Spass dabei haben», sagt Jude gegenüber SWI swissinfo.ch nach der ersten Vorführung des Films in Locarno. «Sonst hätte es keinen Sinn, das zu tun, was wir tun.»

Externer Inhalt

Das Leben ist absurder als die Kunst

Die Handlung seines neuesten Films lässt sich als ein Tag im Leben der unter Schlafentzug leidenden Filmproduktionsassistentin Angela (Ilinca Manolache) zusammenfassen.

Sie verbringt den ganzen Tag im dichten Bukarester Verkehr auf der Suche nach Opfern von Arbeitsunfällen, die für einen Dokumentarfilm vorsprechen sollen, der von einem österreichischen multinationalen Unternehmen in Auftrag gegeben wurde, um es von jeglicher Verantwortung für das traurige Schicksal seiner Arbeiter:innen freizusprechen.

Der Film basiert auf der wahren Geschichte einer jungen Frau, die nach mehreren Tagen endloser Arbeit für eine Filmproduktionsfirma am Steuer einschlief und bei einem Autounfall ums Leben kam.

Radu Jude ist ausserhalb Rumäniens ein gefeierter Filmemacher, seit er 2021 mit Bad Luck Banging oder Loony Porn den Goldenen Bären, den Hauptpreis der Berliner Filmfestspiele (Berlinale), gewonnen hat.

Er ist ein Cinephiler und ein Workaholic. Wenn er nicht mit den Dreharbeiten für einem Spielfilm beginnen kann, füllt er seine Zeit mit der Arbeit an mehreren Kurzfilmen gleichzeitig und experimentiert mit Formaten (und Witzen). SWI swissinfo.ch hat sich mit Radu Jude am diesjährigen Festival getroffen.

Portrait of Radu Jude, vor dunklem Hintergrund violett beleuchtet
Der rumänische Filmregisseur Radu Jude. ©silviu Ghetie

SWI swissinfo.ch: Herzlichen Glückwunsch zu Ihrem Film. Wir denken, er ist sogar besser als der letzte Mission:Impossible.

Radu Jude: Ich liebe Mission:Impossible. Ist der neue Film gut? Ich würde ihn gerne sehen. Aber der letzte Film von [Regisseur] Christopher McQuarrie hat mir nicht gefallen. Wie lautet nochmals der Titel?

Fallout?

R.J.: Fallout, genau. Chinesische Propaganda. Aber nein, ich werde mir den neuen Film so bald wie möglich ansehen. Aber ich habe Barbie und Oppenheimer gesehen – ich bin ein zivilisierter Mensch.

Um auf Ihre eigenen Filme zurückzukommen: Viele von ihnen handeln auf die eine oder andere Weise von Rumänien als multiethnischem, multikulturellem Land. Wie passen Sie da hinein, auch in Anbetracht Ihres Nachnamens [‹Jude› ist auch ‹Jude› auf Deutsch]? Haben Sie überhaupt einen jüdischen Hintergrund?

Das ist eine gute Frage. Ich bin kein Jude. Nun, Jacques Lacan würde etwas Interessantes darüber sagen, warum ein Mann, dessen Name Jude ist ‒ was auf Altrumänisch «Richter» bedeutet ‒ drei Filme über den Holocaust macht, ohne Jude zu sein.

Aber in gewisser Weise bin ich einer geworden. Als ich den Goldenen Bären bekam, setzte eine rumänische Zeitung einen gelben Stern auf ein Bild von mir und schrieb: «Radu Jude hat den Goldenen Bären für einen pornografischen Film gewonnen». Der ganze Artikel war ein antisemitischer Angriff, in dem es hiess, ich solle dahin zurückgehen, wo ich herkomme ‒ nach Israel.

Mein Vater stammt aus Transsylvanien, aus dem rumänischen Teil. Der Name Jude ist in einigen Teilen Siebenbürgens gar nicht so selten. Meine Eltern stammen beide aus armen Dörfern auf dem Lande. Meine Mutter stammt aus einem Dorf 60 Kilometer ausserhalb von Bukarest.

Sie sind in Bukarest aufgewachsen?

Ich bin auf dem Land aufgewachsen, bei meiner Grossmutter mütterlicherseits. Das war die schönste Kindheit, die ich je hätte haben können. Es war ein Dorf wie im Mittelalter. Und wenn man ein Kind ist, sieht man die schlechten Seiten nicht, die Armut und all das.

Es war voller Kinder, voller Menschen, voller Tiere, voller Natur, voller Wasser. Manchmal starben Kinder; sie ertranken. Ich habe viele Kinder sterben sehen, wenn ich jetzt darüber nachdenke. Aber es war eine sehr schöne Kindheit.

Und weil meine Eltern in Bukarest arbeiteten, musste ich dort zur Schule gehen. Aber ich habe alle meine Ferien auf dem Land verbracht. Bis zur Oberschule fühlte ich mich wie ein Landkind, das gezwungen war, in einer grossen, schrecklichen Stadt zu leben. Und ich glaube, das ist mir geblieben.

In vielen Ihrer Filme, auch in Ihrem neuesten, geht es nicht nur um den Status der Jüd:innen in Rumänien, sondern auch um den der Roma.

Bei den historischen Filmen, die ich gemacht habe, ist das eher der Fall. Als ich Aferim! machte, einen Film über die Geschichte der Versklavung der Roma, habe ich immer erwähnt, dass ich ihn aus der Sicht eines Rumänen und nicht eines Roma gedreht habe. Das Gleiche gilt für meine Filme über die Vernichtung der Juden.

Beide Themen sind in Rumänien ziemlich tabu. Aber ich habe diese Filme aus der Perspektive der Rumänen, der Täter, gemacht. Ich glaube nicht an eine Kollektivschuld, aber sie gehören zur Mehrheitsbevölkerung. Und ich gehöre nicht zur Minderheit.

Es gibt einige Kritik aus den Roma-Gemeinschaften, aber es gab auch viel Lob für Aferim! Gelu Duminică, ein bekannter Roma-Aktivist, sagte zum Beispiel, er finde den Film viel wichtiger, weil er von einem Rumänen und nicht von einem Roma gemacht wurde.

Diese Art von politischer Korrektheit… Ich möchte nicht verallgemeinern, denn es ist ein Phänomen, das ich in mancher Hinsicht für sehr gut und in anderer für nicht so gut halte.

Aber ich glaube wirklich, dass die Idee, dass heutzutage jeder nur für seine eigene Kategorie oder Gemeinschaft sprechen sollte, falsch ist. Natürlich kommt es darauf an, was man tut, aber Kunst, Kultur und Kino sollen uns helfen, andere zu verstehen.

Wenn man also sagt, dass nur Roma Filme über Roma machen sollten, Rumänen über Rumänen, Schwule über Schwule, Transmenschen über Transmenschen, und niemand sonst hat das Recht, über die anderen zu sprechen, dann halte ich das für falsch. Wie ich schon sagte, es kommt darauf an, wie man es macht.

Szene aus dem Film von Radu Jude, Nina Hoss in Schwarz-Weiss vor städtischer Kulisse
Schauspielerin Nina Hoss spielt eine Marketingleiterin namens Frau Goethe. Ihr Chef, der Vorstandsvorsitzende des österreichischen multinationalen Unternehmens, heisst Hans Frank – eine Anspielung auf den verbrecherischen Gauleiter des besetzten Polens während des Zweiten Weltkriegs. Das Beste und Schlimmste aus Geschichte und Kultur sind die Grundlage für Judes anarchischen Humor. ©4 Proof Film

Wie sehen Sie den Umgang Rumäniens mit seiner Vergangenheit, d.h. den letzten 100 Jahren? Glauben Sie, dass das Land Rückschritte macht?

Das ist eine Frage, die ich so nicht formulieren würde, weil ich nicht daran glaube, dass sich die Geschichte wiederholt. Wie in jedem Land, aber besonders in einem kleinen Land wie Rumänien, wird die Geschichte zur Identitätsfindung genutzt, daher ist die Beziehung zur Geschichte entscheidend.

Wenn ich mir die dunklen Flecken der rumänischen Geschichte anschaue, sehe ich eine grosse Verbindung zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart. Deshalb möchte ich Filme über diese Art von Verbindungen machen. Aber das gibt es in jedem Land. Ich denke, es ist auch die Aufgabe der Kunst, das zu erforschen.

Manchmal kritisieren mich die Leute dafür, dass ich solche Filme mache. Aber in gewisser Weise, optimistisch gesprochen, zeigt die Existenz dieser Filme, dass die Gesellschaft stark ist. Wenn unsere Gesellschaft stark ist, kann sie Kritik akzeptieren.

Nur in schwachen Gesellschaften kommt man für diese Art von Kritik ins Gefängnis. Nur in schwachen Gesellschaften werden Bücher und Filme verbrannt. Rumänien ist keine sehr stabile und reife Gesellschaft, aber es gibt Anzeichen dafür, dass sie beginnt, eine zu werden.

[Zum Journalisten] Woher kommen Sie?

Aus der Schweiz.

Lassen Sie uns über die Banken sprechen. (lacht) Ich habe diesen Dokumentarfilm gesehen, La Suisse, coffre-fort d’Hitler, der zeigt, dass die Schweiz all das Geld von Hitler nahm, Hitler half ‒ und sie nannten die Schweiz ein neutrales Land. Und heute hilft die Schweiz Putin und der Invasion in der Ukraine.

Apropos Ukraine und die historischen Filme, die Sie gemacht haben: Ihre letzten beiden grossen Festivaltitel, Bad Luck Banging oder Loony Porn in 2021 und jetzt Do Not Expect Too Much from the End of the World, beschäftigen sich auf sehr direkte Weise mit der aktuellen politischen Lage. Haben sich Ihre Interessen verschoben?

Ja, ich denke schon. Ich habe fünf oder sechs Spielfilme und fünf oder sechs Kurzfilme hintereinander gemacht, die sich alle mit der Geschichte, der Geschichte Rumäniens und den dunklen Flecken der rumänischen Geschichte beschäftigen.

Ich glaube, damit bin ich jetzt fertig. Vielleicht habe ich noch ein Projekt, das mit Geschichte zu tun hat, aber um ehrlich zu sein, habe ich das Gefühl, dass ich das Thema für mich ausgeschöpft habe. Zumindest für eine Weile möchte ich mich auf Filme konzentrieren, die sich mit dem Leben und den Ereignissen der Gegenwart beschäftigen.

Aber ich denke, dass die Übung, über die Geschichte nachzudenken und darüber, wie man die Vergangenheit im Kino darstellt, mir geholfen hat, die Probleme der Darstellung besser zu verstehen.

So sind auch meine neuen Filme, die zeitgenössischen, in gewisser Weise historisch. Sie versuchen, die historischen Strömungen und Bewegungen, die uns alle umgeben, mit demselben Blick zu erfassen ‒ als wären sie von einem Ausserirdischen oder von jemandem gemacht, der 2000 Jahre in der Zukunft lebt. Das Kino kann uns helfen, die Dinge der Gegenwart in einer historischen Dimension zu sehen.

Radu Jude und Schauspieler auf dem Roten Teppich vor dem typischen Locarno Leopardenmuster
Man wird ihn nie im Smoking sehen: Radu Jude (rechts) bei einem Fototermin in Locarno mit den Schauspielern Ovidiu Pîrșan (links) und Ilinca Manolache. Locarno Film Festival / Ti-press

Ihr Film geht von der Prämisse aus, dass Rumänien im Grunde genommen ein Chaos ist – aber er scheint auch zu suggerieren, dass das Land den Menschen die Kreativität und die Selbstironie gibt, die notwendig sind, um damit umzugehen.

Das stimmt ‒ auf eine gute und auf eine schlechte Art und Weise. Ich habe für ein Projekt in Berlin eine Residency für ein paar Monate. Es ist eine tolle Stadt, sehr schön; ich habe eine Wohnung und ein kleines Gehalt. Alles ist in Ordnung.

Aber dann gehe ich raus und sehe, wie alles so ordentlich und organisiert ist, und ich frage mich, welche Filme ich hier machen könnte. Die Situation in Rumänien hingegen, mit der Verrücktheit der Gesellschaft, ist ein fruchtbarerer Boden für Literatur, Kunst und Kino.

Was veranlasst Sie dazu, so viele Zitate aus der Literatur und der Kulturtheorie in Ihre Filme aufzunehmen?

Ich glaube, das ist meine Art zu denken. Ich muss immer die Gedanken und die Werke anderer nutzen, um selbst denken zu können. Und warum nicht Zitate einbauen? Warum soll ich die Dialoge selbst schreiben, wenn es so viel mehr Spass macht?

Es ist wie das Vergnügen, etwas mit jemandem zu teilen. Wenn man einen guten Witz kennt, möchte man ihn jemandem erzählen. So geht es mir auch. Wenn ich ein gutes Buch lese, möchte ich es mit jemandem teilen ‒ ich schenke es dir. Die Witze im Film sind Zitate, die ich Monate oder Jahre vor den Dreharbeiten aufgeschrieben habe.

In Ihrem neuesten Film beschreiben Sie auch, wie das 20. Jahrhundert das 21. Jahrhundert widerspiegelt, indem Sie einen Bogen von der kapitalistischen Dimension der Filme der Brüder Lumière bis hin zu TikTok spannen.

Das stimmt auf der einen Seite. Aber dieses sogenannte primitive Kino von TikTok ‒ trotz aller Probleme mit sozialen Netzwerken, trotz des toxischen Diskurses, trotz der faschistischen Propaganda, trotz aller Arten von Propaganda, die man finden kann ‒ bedeutet auch, dass jeder jetzt einen Film machen kann.

Ich muss nur TikTok öffnen… [nimmt sein Handy heraus und öffnet TikTok] …und ich sehe, dass es eine Menge verschiedener Dinge auf einmal sind. Das sind Dinge, die die Leute auch im frühen Kino gemacht haben. Sehen Sie sich nur dieses Mädchen an. [Ein Videoclip von einer jungen Frau, die tanzt] Warum sehe ich sie nicht in einem Film?

Oder in dieser Animation [Ein Clip von einer animierten grünen Kreatur, die ein Lied singt]? Warum ist das nicht auf dem Filmfestival von Annecy? Oder dieser Typ? [Ein Clip von einem Mann, der in einem Garten tanzt] Man kann sagen, dass das keine grosse Sache ist, es ist trivial ‒ aber für mich ist es nicht trivial.

Ich sehe diese Dinge als Momente des Kinos, und zwar als grosse Momente. Ich sehe diesen Geist nicht in Filmen. [Er scrollt einen langen Moment lang in anerkennendem Schweigen weiter] Das ist viel kreativer als 90% des heutigen Kinos, tut mir leid.

Und wenn Filmemacher ehrlich zu sich selbst wären und nicht in die Fallen von Geld und Ruhm tappen würden, würden sie sagen: «Wir sind am Arsch, wir stecken in einer Krise!» Wenn dir jemand auf TikTok zeigen kann, dass er besser ist als du, dann geh einen Schritt zurück und überdenke, was du tust.

Ist der derzeitige Streik der Drehbuchautor:innen und Schauspieler:innen in Hollywood ein Zeichen dafür, dass sie diese Dinge überdenken?

Natürlich, aber symbolisch. Ich unterstütze alle Streiks in Hollywood. Aber wenn Autor:innen sagen, dass sie streiken, weil die Studios künstliche Intelligenz (KI) einsetzen, um Drehbücher zu schreiben, dann tut es mir leid, ihnen zu sagen, dass das eure Schuld ist.

Ihr habt die dummen Drehbücher für Filme und Fernsehserien geschrieben, welche die KI ad hoc erzeugen kann. Versucht also, etwas Besseres zu machen.

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