Raus aus Jean-Luc Godards Schatten: Anne-Marie Miéville wird endlich entdeckt

Die Schweizer Filmemacherin Anne-Marie Miéville wurde bekannt als Partnerin von Jean-Luc Godard. Als dieser 2022 starb, hatte sich die heute 79-jährige Miéville längst aus dem Filmgeschäft zurückgezogen. Öffentlichkeit suchte sie nie. Doch ihre Filme sind keineswegs in der Versenkung verschwunden.
Seit dem Tod des grossen französisch-schweizerischen Filmemachers im Alter von 92 Jahren im Jahr 2022 erlebt die Film- und Kunstwelt einen «Godard-Moment», um den Titel einer kürzlich im Pariser Orangerie-MuseumExterner Link veranstalteten Filmvorführung und Ausstellung aufzugreifen.
Es gab einen stetigen Strom von Büchern, Artikeln, Konferenzen, Filmvorführungen und Ausstellungen – in Nyon, Paris, Berlin, Porto und zuletzt in London. Mit der bevorstehenden Gründung der Jean-Luc Godard Foundation steht darüber hinaus ein langfristiges Projekt zur Dokumentation, Archivierung und Restaurierung an.

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Diese Stiftung wurde bereits in der Ausstellung der Fondation Serralves in Porto unter dem Namen «Ô Contraire! Collectif» als Kuratorin genannt. Das Kollektiv setzt sich aus Godards Mitarbeiter:innen aus zwei Jahrzehnten zusammen: Fabrice Aragno, Nicole Brenez, Jean-Paul Battaggia und Paul Grivas.
Ein Name fehlt hier jedoch: Anne-Marie Miéville, Godards Partnerin im Leben und sehr oft auch in der Kunst. Angesichts der Verflechtung ihres beruflichen und privaten Lebens mutet es seltsam an, dass sie nicht in der Reihe der Mitwirkenden dieses Godard-Moments genannt wird. Miéville war Godards dritte und letzte Ehefrau.

Im Schatten bleibend
Das letzte veröffentlichte Interview mit Miéville stammt aus dem Jahr 2000, nach der Veröffentlichung ihres vierten und letzten Spielfilms, Après la réconciliation.
Das Paar lebte seit 1978 ruhig und diskret in der kleinen Schweizer Gemeinde Rolle in der Nähe des Genfer Sees. Doch Godard hielt sich nie völlig aus der Öffentlichkeit heraus. Er war in seinen späteren Jahren sogar gezielt online präsent und beglückte seine Fans gelegentlich mit Instagram-Lives oder rätselhaften Selbstporträts.
Im Gegensatz dazu soll Miéville jenen gegenüber misstrauisch gewesen sein, die sich mehr für sie als Person als für die Filmemacherin interessierten. Ihre Zurückhaltung wurde von ihren Gesprächspartner:innen in den wenigen Radio- und Fernsehinterviews, die sie gab, oft scherzhaft angedeutet. Sie reagierte darauf mit Belustigung und Frustration.
«Ich hatte nie Probleme, Anerkennung zu finden, ich litt nie darunter, im Schatten zu stehen», sagte Miéville einmal in einem Interview in Le Monde. Nun scheint es so, als habe sie sich entschieden, dort zu bleiben. Bemühungen von SWI swissinfo.ch, Miéville zu erreichen, blieben erfolglos.
Die Zusammenarbeit zwischen Miéville und Godard umfasst auch diese ironische Werbung für die Schweizer Zigarettenmarke Parisiennes (1992):
Jenseits des Kinos
Bei der Eröffnungsfeier der Godard-Ausstellung im Musée de l’Orangerie, an der namhafte Persönlichkeiten wie Dominique Païni, Kurator, Programmgestalter und ehemaliger Direktor der Cinémathèque française, und Alain Bergala, Filmkritiker und ehemaliger Chefredakteur der Cahiers du cinema, teilnahmen, trafen unsere entsprechenden Fragen auf entmutigende Antworten.
Es herrschte ein gemeinsames Unbehagen darüber, im Namen von jemandem zu sprechen, der sich nicht öffentlich äussern will, und es gab vage Kommentare über Trauer und Verlust und eine endgültige Erklärung von Jean-Paul Battaggia: «Anne-Marie Miéville hat die Welt des Kinos verlassen; all das interessiert sie nicht mehr.»

Fabrice Aragno, der kürzlich mit SWI swissinfo.ch über Jean-Luc Godard sprach, schien dieses Gefühl der Endgültigkeit in Bezug auf Miévilles Arbeit zu teilen. In einem kurzen Telefonat sagte Aragno: «Jean-Luc pflegte zu sagen, dass sie viel schneller sei als er», denn in nur zehn Filmen «schaffte sie es, die gesamte Bandbreite des Kinos abzudecken. Er brauchte viel länger. Er war noch nicht fertig.»
Jean-Michel Frodon, ehemaliger Chefredaktor der Cahiers du cinéma, interviewte Miéville während seiner Zeit bei Le Monde. Frodon, ein grosser Bewunderer ihrer Filme, erklärte, er habe den Kontakt zu ihr vor langer Zeit verloren. Da er nur aus zweiter Hand Informationen über die Entwicklung ihrer Beziehung zu Godard sowie über ihre gesundheitlichen Herausforderungen und anderen Schwierigkeiten habe, mit denen sie in den letzten 15 Jahren konfrontiert war, könne er keine verlässlichen Informationen geben.
«Die götzendienerischen Formen der Verehrung, die Godard umgeben – zu seinen Lebzeiten unausweichlich, aber leider für ihn und für uns teilweise unabdingbar für die Fortführung seines Werks – können nach seinem Tod nur noch schlimmer werden», so Frodon.
«Und sie befördern negativ die Art und Weise, wie sie (trotz Godards Bemühungen) als Co-Autorin vieler seiner Werke unsichtbar gemacht wurde. Ihre vier Spielfilme liegen mir noch immer sehr am Herzen, und ich kann mich nur über jede Geste freuen, die dazu beiträgt, etwas von der Aufmerksamkeit zu bewahren oder wiederherzustellen, die sie verdienen.»

Ehrungen in Abwesenheit
In letzter Zeit gab es mehrere solcher Gesten. Miévilles Werk wurde in diesem Herbst auf zwei Filmfestivals gewürdigt – Ende Oktober auf dem Internationalen Dokumentarfilmfestival Ji.hlava in der Tschechischen Republik, dann im November in Madrid auf dem Márgenes Festival und in der Filmoteca Español de Madrid. Bis zu diesem Jahr waren ihre Filme nur selten international zu sehen und noch seltener in der Schweiz, ihrem Heimatland, wo noch kein Festival oder eine Kunstinstitution ein umfassendes Programm ihrem Werk gewidmet hat.
Die Programmleiterin des Filmfestivals Ji.hlava, Adriana Belešová, erklärte, man erwarte, dass die Miéville gewidmete Retrospektive eher Cineast:innen, Filmwissenschaftler:innen und Filmemacher:innen ansprechen werde als das allgemeine tschechische Publikum. Belešová sagte, dass die Zusammenarbeit zwischen Godard und Miéville zwar weit von der konventionellen Dynamik einer weiblichen Künstlerin entfernt sei, die im Schatten ihres männlichen Pendants stehe, doch von Kritiker:innen und Journalist:innen oft so dargestellt werde.
«Wir wollten zeigen, wie vielseitig kreativ Miéville war», so Belešová. «Deshalb haben wir Filme ausgewählt, welche die verschiedenen Rollen illustrieren, die sie innehatte – sie war für den Sound zuständig, hat den Schnitt gemacht und die Voice-Overs geschrieben.»
Für die Schweizer Expo 02 drehten Miéville und Godard den Kurzfilm “Liberté et Patrie“ (Freiheit und Vaterland) über Aimé Pache, einen wenig bekannten Maler aus ihrem Schweizer Kanton, dem Waadtland. Mit englischen Untertiteln:
Nach den Programmen in Ji.hlava und Márgenes veranstaltet der gemeinnützige Verein Filmkollektiv Frankfurt im Dezember ebenfalls eine Retrospektive, die sich auf Miévilles Solowerk konzentriert.
Aragno erzählte SWI swissinfo.ch, dass derzeit nach einer Finanzierung gesucht werde, um die Negative und Kopien zu digitalisieren, von denen viele nur in Videoformaten aus den 1990er Jahren verfügbar sind: «35-mm-Kopien sind schwer zu verbreiten. Wir versuchen sicherzustellen, dass die Filme ihnen angemessen in Kinos gesehen werden können, mit untertitelten Versionen, die weltweit erhältlich sind.»
Aragno sagte, er freue sich über das erneute Interesse an Miévilles Werk. «Sogar Jean-Luc war wirklich verärgert, wenn sich die Leute manchmal nur wegen ihm für sie interessierten. Es ist wichtig, dass ihr filmisches Schaffen um ihrer selbst Willen existiert.»
Miéville wurde 1945 in Lausanne geboren. Sie verfolgte kurzzeitig eine Gesangskarriere, arbeitete in einer palästinensischen Buchhandlung in Paris und lebte einige Zeit mit dem Schweizer Fotografen und Filmemacher Francis Reusser zusammen.
Miévilles Treffen mit Jean-Luc Godard im Jahr 1971 markierte den Beginn einer fruchtbaren kreativen Partnerschaft, die oft als ihre «Sonimage-Periode» bezeichnet wird, nach dem Namen der Produktionsfirma, die sie in Grenoble gründeten. Sonimage fungierte als kreatives Labor, das seiner Zeit weit voraus war und mit Themen wie Familie, Kommunikation, Repräsentation und Arbeit experimentierte.
1977 drehte Miéville ihren ersten Solofilm, Papa comme maman, für das Schweizer Radio und Fernsehen (RTS). In den 1980er-Jahren arbeitete Miéville weiterhin mit Godard als Editorin, Drehbuchautorin und Co-Regisseurin an zwei Filmen und drehte 1988 auch ihren ersten Spielfilm Mon cher sujet. Sechs Jahre nach ihrem ersten Film, der Aspekte der Weiblichkeit über Generationen hinweg untersuchte, drehte Miéville ihren zweiten Film Lou n’a pas dit non (1994). Mit seiner einzigartigen Sensibilität integrierte Lou n’a pas dit non Kunstformen wie Poesie, Performance und Skulptur.
Ihr Schwerpunkt verlagerte sich mit Nous sommes tous encore ici (1997) – ein dreiteiliger Film mit Ausschnitten aus Platons Gorgias und Hannah Arendts Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, in dem Aurore Clément und Godard ein Paar porträtierten – auf die Philosophie. Après la réconciliation (2000), ihr bisher letzter Spielfilm, zeigte Miéville und Godard als Paar, das ein jüngeres Paar trifft und mit ihm über Liebe, Verlangen und Angst spricht.
Editiert von Catherine Hickley und Eduardo Simantob/ds, Übertragung aus dem Englischen mit der Hilfe von Deepl: Petra Krimphove/me
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