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«Frauen und Kino machen vielen afrikanischen Regierungen Angst»

Claire Diao: "Ich habe das Gefühl, dass es eine Überdosis von Filmen über Prostituierte gibt. Aber ist das die Wirklichkeit?" Julien Chavaillaz

Die afrikanischen Frauen konnten sich in den letzten Jahrzehnten vor und hinter der Kamera etablieren – trotz Patriarchat und teils offener Frauenfeindlichkeit. Diesen Frauen widmet das Internationale Filmfestival Freiburg (FIFF) eine Retrospektive, in Zusammenarbeit mit der in Burkina Faso geborenen Journalistin und Filmspezialistin Claire Diao.

swissinfo.ch: Die ersten afrikanischen Filmemacherinnen waren in den 1970er-Jahren tätig. Wer waren diese Pionierinnen?

Claire Diao: Oft wird «Sambizanga» als erster Film einer afrikanischen Regisseurin bezeichnet. Er spielt während des Unabhängigkeitskriegs in Angola und wurde 1973 erstmals am Karthago Filmfestival gezeigt. Tatsächlich aber ist die Regisseurin Sarah Maldoror eine Französin.

Ein anderer Schlüsselfilm ist «Lettre Paysanne» der Senegalesin Safi Faye, 1975 für das Filmfestival Cannes ausgewählt. Er behandelt die wirtschaftlichen Probleme der Bauern und die noch heute andauernde Abwanderung in die Städte. Leider konnten wir keine Kopie dieses Films finden, weshalb wir ihn nicht zeigen können.

swissinfo.ch: Kann man wirklich von einem Frauenkino sprechen? Gibt es ein solches Genre?

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Der afrikanische Film dürstet nach Freiheit

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht «Kommt mit uns zum Fest. Dieser Preis gehört nicht nur uns, sondern ganz Afrika», sagt Daouda Coulibaly, eine junge Regisseurin aus Mali und eine der vier Gewinnerinnen des Open-Doors-Awards. Ihr Filmprojekt, das noch im Frühstadium steckt, dreht sich um die simple Frage: Ist die organisierte Kriminalität die einzige Alternative, die Afrika bleibt, um sich endlich…

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C.D.: Wenn ich ehrlich sein will, schaue ich mir einen Film lieber an, ohne zu wissen, wer diesen gemacht hat, denn oft lässt man sich von Vorurteilen leiten. Manchmal ist man erstaunt zu entdecken, dass ein Film von einem Mann gemacht wurde und nicht von einer Frau. Das fordert unsere Wahrnehmung des Feingefühls heraus.

Persönlich bin ich überzeugt, dass das Feingefühl kein Geschlecht hat. Es gibt sehr harte Filme von Regisseurinnen und viel weichere von Männern. Ausserdem sind es oft Männer, die diese Stereotypen reproduzieren, indem sie die Empfindlichkeit oder die Emotionalität des Films einer Regisseurin betonen.

swissinfo.ch: Aber gibt es eher frauenspezifische Themen?

C.D.: Was mich in den letzten Jahren besonders überrascht hat, ist die Art und Weise, wie die afrikanischen Regisseurinnen die Frau darstellen. Ich habe das Gefühl, dass es eine Überdosis von Filmen über Prostituierte, oft Mestizinnen, gibt. Aber ist das die Wirklichkeit? Die Frau wird als Mutter, Schwester oder Prostituierte gezeigt. Ich finde das etwas pathetisch. Ich kann es mir nicht erklären… Und ich frage mich, ob sich die Regisseurinnen der Botschaft bewusst sind, die sie vermitteln!

Der einzige Unterschied, den ich zwischen Männern und Frauen bemerke, ist vielleicht die Tatsache, dass die Frauen über die Klischees hinausgehen. Sie versuchen, sich allen Frauen anzunähern und ihre Stärke zu markieren.

Ich denke dabei besonders an «Le Challat de Tunis»Externer Link von Kaouther Ben Hania. Ein Film, der den Machismo der tunesischen Gesellschaft hinterfragt. Dies anhand der Legende eines Mannes, der Frauen im Vorbeigehen mit einem Rasiermesser den Hintern aufschlitzt.

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swissinfo.ch: Gehen Regisseurinnen, welche die Normen oder Werte zu hinterfragen wagen, in patriarchalen und nicht immer demokratischen Gesellschaften ein grösseres Risiko ein?

Claire Diao

Die französisch-burkinische Journalistin ist Mitglied des Filmkritiker-Verbands von Burkina Faso und des afrikanischen Filmkritiker-Dachverbands.

Die Expertin für den afrikanischen Film arbeitet unter anderem für «Le Monde Afrique», «Canal + Africa», «Courrier International» und hat das Online-Magazin «Awotélé» gegründet.

Am Internationalen Filmfestival FreiburgExterner Link hat sie die Auswahl «Terra incognita: Das Dasein der Filmemacherin in Afrika»Externer Link kuratiert.

C.D.: Man darf nicht vergessen, dass das Kino noch vielen afrikanischen Regierungen Angst macht, weil es ein kollektives Bewusstsein ermöglicht. Betrachten wir beispielsweise die Literatur: In Ländern mit einer hohen Analphabetismus-Quote richtet sich diese vor allem an die Intellektuellen. Doch diese können leichter «isoliert werden». Ein Film aber kann ein ganzes Volk erreichen – mit dem Risiko, dass dieses erwacht.

In diesem Kontext riskieren Frauen sehr viel, wenn sie die Gesellschaft hinterfragen. Und das gilt nicht nur für die Regisseurinnen, sondern auch für die Schauspielerinnen.

2015 wurde die marokkanische Schauspielerin Loubna Abidar gedemütigt und angegriffen, weil sie im Film «Much Loved» mitspielte, der die Prostitution in Marrakesch thematisierte (diese ist in Marokko offiziell verboten, die Red.). Die Anfeindungen geschahen, weil der Film von Nabil Ayouch ein Bild von Marokko zeigt, über das niemand reden will, das aber für alle sichtbar ist.

In Afrika ist das Verhältnis zum Bild problematisch: Das Publikum unterschiedet nicht zwischen der Schauspielerin als Mensch und der Rolle, die sie spielt.

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swissinfo.ch: Ist das auch, weil Frauen immer noch als «Tochter von» oder «Ehefrau von» betrachtet werden und damit der Ruf der ganzen Familie auf dem Spiel steht?

C.D.: Sicher! Der Blick und das Urteil anderer sind in Afrika von grundlegender Bedeutung. Eine Frau kann vielleicht ihren Mann oder ihre Familie von der Wichtigkeit ihrer Arbeit als Regisseurin oder Schauspielerin überzeugen, doch sie muss immer auch an die gesamte Verwandtschaft denken, an das Quartier, an die Stadt oder sogar an ihr Land.

Das Konzept ist einfach: «Du bist meine Ehefrau, meine Tochter, meine Nichte… Und Dein Bild gehört mir!» Dabei stossen wir gleich noch auf ein weiteres Hindernis: Hat sie erst einmal eine Familie, ist es für eine Frau nicht einfach, ihre Karriere als Regisseurin fortzuführen. Weil die Beziehungen weit davon entfernt sind, gleichgestellt zu sein.

swissinfo.ch: Tendieren die Frauen angesichts dieser Schwierigkeiten zur Selbstzensur?

C.D.: Das glaube ich nicht. Für mich haben die Filmfrauen eine Gemeinsamkeit: Sie stellen sich mutig der Notwendigkeit, sich durch Filme auszudrücken. Bereits die Tatsache, eine Kamera in die Hand zu nehmen oder zu schauspielern, bedeutet, eine Schlacht auszutragen, auch innerhalb der Familie. Ein Teil möglicher Selbstzensur fällt deshalb schon weg, und der ist nicht klein!

Kontaktieren Sie die Autorin via Twitter @stesummiExterner Link

(Übertragung aus dem Italienischen: Christian Raaflaub)

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