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René Burri und das unbestechliche Objektiv

René Burri beim Aufhängen seiner Bilder. swissinfo.ch

Er hat die ganze Welt durchstreift und mit Leuten verkehrt, die Geschichte gemacht und ihr Farbe verliehen haben, von Picasso bis zu Che Guevara.

Das Musée de l’Elysée in Lausanne widmet dem Werk des Zürcher Fotografen eine grosse Ausstellung. swissinfo hat ihn dort getroffen.

Der Titel ist nüchtern: «René Burri. Fotografien». Das für einen 448-seitigen Bildband, publiziert in fünf Ausgaben. Vertieft mit einer Retrospektive im Maison Européenne de la Photographie in Paris, welche jetzt im Musée de l’Elysée in Lausanne zu sehen ist.

René Burri, mit schwarzem Hut und heller Jacke, lächelt, hat Zeit. Und offensichtlich Freude, einmal mehr seine grossartige Laufbahn zu schildern, obwohl in letzter Zeit ein Interview das andere jagt. Er raucht eine Zigarre. Vielleicht ein kubanisches Souvenir.

swissinfo: Wie geht man nach 50 Jahren Fotokarriere bei der Auswahl für ein Buch und eine Ausstellung vor?

René Burri: Das ist ein langer Prozess. Ich stand vor riesigen Fotobergen, wobei ich einige Bilder gar nie verwendet oder richtig angeschaut hatte. Die eigentliche Arbeit begann vor drei Jahren mit dem Kurator Hans-Michael Koetzle.

swissinfo: Sie wurden 1933 in Zürich geboren. Als Kind kannten sie also Europa als Brandherd. Stammt Ihr Eifer, historische Momente fest zu halten, schon aus dieser Epoche?

R.B.: Der Krieg war hart. Wir waren Schweizer, aber meine Eltern wurden zwischen der Schweiz und Deutschland hin und her gerissen – ich hatte Verwandte auf der anderen Seite und einen Onkel in der Wehrmacht, der in Stalingrad gefallen ist. Ich erinnere mich an die Flugzeuge, die ihre Bomben jenseits der Grenze abwarfen.

Und bei Kriegsende kritisierte ich mit meinen Freunden an der Bahnhofstrasse den Nazi-Reichsadler. Ja, dieses Ereignis hat mich zweifellos geprägt, so wie der Tag, wo ich den Rhein überquerte und die völlig zerstörten, dem Erdboden gleich gemachten Städte sah.

Ich war neugierig, aber als Kind weiss man sich nicht auszudrücken. Ich habe immer gerne gezeichnet, und so erwartete man, dass ich Grafiker oder Maler werden würde. Während eines Jahres studierte ich Kunstgeschichte. Doch meine Liebe galt dem Film.

Schliesslich kam mir zum Bewusstsein, dass ich nicht Orson Welles war. Also wurde ich Fotograf, ein Beruf, für den ich mich zuerst nicht wirklich erwärmen konnte. Aber er machte es mir schliesslich möglich, die ganze Welt zu bereisen.

swissinfo: Ihre Reportagen haben einen künstlerischen Anspruch; sie vermitteln einen Blick, der Ordnung schafft im Durcheinander. Linien, Achsen, die sich aus dem Chaos lösen. Weshalb dieser Weg?

R.B.: Ich hatte zwei Lehrer mit Bauhaus-Erfahrung, die grossartig waren. Sie waren dem verpflichtet, was man die «neue Sachlichkeit» nannte; alles Überflüssige wurde entfernt: zuerst reinigen, um dann das Wesentliche auszusagen. Und dann, wie ich später entdeckte, habe ich einen natürlichen Sinn für Perspektiven.

Bei der Fotoagentur Magnum haben mich Henri Cartier-Bresson oder David Seymour sofort auf Ereignisse angesetzt. Bis ich dann merkte, dass ich Gefahr lief, mich auf etwas festzulegen, auf eine Art Schweizer Stil. Ich kämpfte dagegen an. Und das Leben half mir, nicht allzu sehr im Klassischen, Visuellen verhaftet zu bleiben, was Perspektiven und Stil betrifft. Aber das hat Zeit gebraucht.

swissinfo: Sie ziehen das metaphorische, symbolische Bild der Schock-Fotografie vor. Wie reagieren Sie auf die Bilderflut zum Tagesgeschehen, der wir ausgesetzt sind?

R.B: Dieses Problem gab es früher auch. Aber ich ging so vor, dass ich nicht unbedingt mitten im Konflikt war. Indem ich um die Ereignisse herum zirkulierte, entdeckte ich, was vorne und hinten war. Auch indem ich ein bisschen diesen Schweizer Söldnergeist bewahrte.

Ich verdanke der Schweiz viel, weil sie mir zu einer moralischen Haltung verholfen hat. Da ich frei schaffend war, brauchte ich nicht alles zu machen. Es gab Momente, wo ich sagte: «Nein, das nicht.»

Es war auch mein Glück, zur Agentur Magnum zu gehören. Es war schwierig, weil damals Zeitschriften wie Life oder Match über einen Stab von 10 Reportern verfügten. Ich fühlte mich wie ein Don Quichotte auf einem Esel, mit einem Zahnstocher gegen Windmühlen kämpfend! Bei Magnum herrscht keine Doktrin, aber es gibt, sagen wir mal, gewisse moralische Richtlinien.

Ich erinnere mich zum Beispiel an die Bilder, die ich nicht gemacht habe. Die aus dem Sand im Sinai heraus ragende schwarze Hand eines toten Soldaten, gerade neben mir. Das hat mich erschüttert.

Oder als ich eines Tages in New York an einer Dame mit schwarzer Brille vorbei ging, die eine unglaubliche Kraft ausströmte. Es war Greta Garbo. Meinen Apparat hatte ich dabei, aber ich fotografierte sie nicht.

Aus mir wurde an diesem Tag kein Paparazzo. Und so kann ich in meinem Hirn jetzt diese kleine, vielleicht 15 Sekunden dauernde Sequenz abrufen. Hätte ich das Bild geknipst, würde ich mich nicht einmal mehr daran erinnern.

swissinfo: Sie sind kein Paparazzo, aber Sie sind ein Porträtist: Picasso, Giacometti, Le Corbusier, Che Guevara… Was ist es, das Sie jeweils für eine bestimmte Persönlichkeit eingenommen hat – anstatt für eine andere?

R.B.: Kürzlich hat mich jemand mit Helmut Newton verwechselt. Wo ich doch niemals Frauen so wie er fotografiert hätte. Im weiteren habe ich gelesen, dass er als Kind seinen eigenen Sandkasten besass. Burri hingegen musste in den öffentlichen Gärten spielen gehen.

Wenn ich also meine Sandschlösser baute, gab es immer irgend ein anderes Kind, das sie mir nachher kaputt machte! Unbewusst hatte ich schon sehr früh diese beiden Themen, die sich entwickelt haben: die Utopie und der Krieg. Also die Leute, die aufbauen, die eine soziale, politische oder künstlerische Vision haben, und diejenigen, die zerstören.

swissinfo: Che Guevara, das ist der Berührungspunkt zwischen Utopie und Krieg. Man assoziiert immer Ihren Namen mit dem Porträt, das Sie von ihm 1963 gemacht haben. Warum wird Ihrer Ansicht nach ein Foto zur «Ikone»? Auch dann, wenn der Fall beim Bild vom Alberto Korda noch extremer ist…

R.B.: Man assoziiert immer zwei oder drei Bilder mit einem Fotografen. Bei mir figuriert dieses da auf der Liste. Das von Korda gemachte Foto wurde von einem italienischen Herausgeber verwertet, es ist zum Symbol der Revolution geworden. Mein Bild wurde bei meiner Rückkehr in der Zeitschrift Look veröffentlicht. Es ist in der Folge als «das andere Foto von Che» in die Geschichte eingegangen.

Vor zehn Jahren kam Korda zu mir nach Paris, er überreichte mir sein Foto und schrieb darauf: «Burri ist einverstanden, dass dies das bekannteste Foto von Che ist.»

Ich gab ihm also mein Bild und notierte: «Korda ist einverstanden, dass dies das beste Foto von Che ist!»

Interview swissinfo, Bernard Léchot
(aus dem Französischen übertragen von Monika Lüthi)

Die Ausstellung «René Burri, Fotografien» ist im Musée de l’Elysée in Lausanne bis zum 24. Oktober zu sehen.

Austellungskommissar: Hans-Michael Koetzle.

Ein schwarz-weiss Bildband (Editions Phaidon 2004), 448 Seiten, ist unter dem selben Titel erschienen.

Ein zweiter Band, «Burri, Geschichte in Farben» ist geplant.

René Burri wurde 1933 in Zürich geboren und lebt in Paris.

Mit seinen bedeutenden Reportagen wurde er in den 1950er Jahren bekannt.

Er arbeitet seit 1959 als frei schaffender Fotograf bei der Agentur Magnum.

Sein weltberühmtes Porträt von Che Guevara, seine Bildserien von Picasso und Le Corbusier sind allgegenwärtig.

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