Kontroverse um Künstler Thomas Hirschhorn in Biel
Der international renommierte Schweizer Künstler Thomas Hirschhorn stellt weiterhin etablierte Codes und politische Korrektheit in Frage. Die Hommage, die er im Juni in Biel an den Schriftsteller Robert Walser ausrichten wird, sorgte aber schon weit im Voraus für rote Köpfe.
Auf dem Bieler Bahnhofplatz entsteht seit fast drei Wochen eine 1200 Quadratmeter grosse Plattform, die aus Hunderten von miteinander verflochtenen Holzpaletten besteht. Für Besucherinnen und Besucher der Hauptstadt des Seelands ist die Überraschung gross, wenn sie den altmodischen Bahnhof verlassen und auf dem Platz davor eine riesige Baustelle vorfinden.
Vom 15. Juni bis 8. September wird die Plattform als Schaufenster für die Gedanken und Texte des berühmtesten Bieler Schriftstellers dienen: Robert WalserExterner Link (1878-1956). Sie ist ein Projekt im öffentlichen Raum von Thomas Hirschhorn, der diese für die Schweizerische Plastikausstellung BielExterner Link 2019 entworfen hat.
Verworrene Situation
Walser in den Taxis
Besucherinnen und Besucher der Schweizerischen Plastikausstellung Biel 2019 können in die Schriften des Bieler Schriftstellers Robert Walser eintauchen, indem sie durch seine Stadt reisen… per Taxi.
Mit den durch die temporäre Umgestaltung des Bahnhofplatzes betroffenen Unternehmen konnte schliesslich eine Vereinbarung getroffen werden.
Der Taxikundschaft wird eine Broschüre mit dem Titel «Taxis mit Walser» zur Verfügung gestellt, die das Leben des Autors nachzeichnet.
Es ist auch möglich, dass thematische Führungen in der Stadt organisiert werden. Somit könnte das Kriegsbeil mit Hirschhorn begraben werden.
Während mehr als einem Jahr wurde die Errichtung der begehbaren Skulptur von verschiedenen Ereignissen überschattet. Dazu gehörten Beschwerden, Rücktritte und eine Verschiebung des Veranstaltungstermins.
Als Erstes sah sich die «Robert Walser-Sculpture»Externer Link – so der Titel dieser quasi-sensorischen Erfahrung – dem Zorn der Taxiunternehmen ausgesetzt, die vom Hauptbahnhof aus operieren. Dann ärgerten sich die Velofahrer darüber, dass sie ihre Fahrräder nicht mehr in Bahnhofsnähe parkieren könnten.
Die Schweizerische Plastikausstellung Biel, die seit 1954 innovative künstlerische Arbeiten in Biel auszeichnet, wurde deshalb erst einmal um ein Jahr verschoben. Schliesslich sorgte diesen März auch noch der Rücktritt des Stiftungsratspräsidenten der Ausstellung, Stéphane de Montmollin, und von dessen Administratorin für Schreckmomente. Als Begründung gaben sie an, es sei zu kompliziert geworden, mit Hirschhorn zu arbeiten.
Was aber sagt der Künstler zu diesen Vorwürfen? «Es ist immer schwierig, ein Kunstwerk im öffentlichen Raum zu schaffen, wo Interessenkonflikte häufig auftreten. Ich kämpfe wie ein Hund um jeden Meter Boden, sonst bewegt sich nichts», sagt Hirschhorn gegenüber swissinfo.ch.
«Ich habe mich gegenüber dem Stiftungsrat in Biel immer klar ausgedrückt. Ich bin nicht extravagant, sondern stur, verwegen und ganz klar verrückt nach Robert Walser. Ich entwerfe in seiner Geburtsstadt ein Werk, das die Menschen prägen und in die Kunstgeschichte eingehen wird.»
«Small is beautiful»
In Biel haben aber nicht alle ein offenes Ohr für seine Musik: In Leserbriefen in Bieler Medien wurde der in Paris lebende Künstler als «Phantast», «Profiteur», «Manipulator» tituliert.
«Das Noble an einer Arbeit im öffentlichen Raum ist, sich der Realität zu stellen. Einige meckern, andere übertreiben oder kramen weit hergeholte Argumente hervor…», entgegnet Hirschhorn. Er sagt aber auch, dass er hier nicht auf mehr Hindernisse gestossen sei als in Paris, Avignon oder Kassel.
Seine Installation – für eine Stadt mit 55’000 Einwohnerinnen und Einwohnern von ehrgeizigen Dimensionen – führt dennoch zu hitzigen Diskussionen in den Häusern der Stadt. Einer von Uhrmacherei und Präzisionsarbeit geprägten Stadt, in der das «Small is beautiful» zu einer Lebensart erhoben wurde.
«Ich habe vor langer Zeit eine Omega-Uhr gekauft. Ich liebe die Pünktlichkeit und Swiss Made. Ich bleibe der Idee treu, dass Uhren für ein ganzes Leben hergestellt werden sollten. Ich unterstütze die Schweizer Uhrenindustrie», antwortet Hirschhorn ironisch auf die Frage, ob die grossen Bieler Uhrenmarken (Rolex, Omega, Swatch) den Bau der «Robert Walser-Sculpture» finanziell unterstützen.
Nein, die prestigeträchtigen Marken der Stadt haben ihre Schatullen noch nicht geöffnet. Gegenwärtig fehlen rund 600’000 Franken, um das Zwei-Millionen-Budget für diese Grossinstallation zu stemmen. Nun hat Hirschhorn beschlossen, selber die Ärmel hochzukrempeln, indem er vor einigen Wochen eine eigene Crowdfunding-Aktion gestartet hat.
«Es sind sicher einige Menschen bereit, ihre Brieftaschen zu öffnen, um meine Philosophie zu verteidigen: den Leuten einzuhämmern, dass die Kunst den Menschen verändern kann», sagt er.
Kampfgeist
Für den Berner Künstler ist es das erste Mal, dass er bei einem Spendenaufruf so weit geht. «Als Künstler darf ich das Thema Geld nicht vernachlässigen. Es ist auch mein Beitrag als Schweizer Bürger.»
Aber ein Budget von zwei Millionen Franken – ist das nicht etwas viel für ein paar hundert Holzpaletten? «Was letztlich zählen wird, sind die Intensität und die Begegnungen, die um diese Palettenskulptur herum entstehen werden. Ich realisiere hier etwas, das nie vergessen werden wird.»
Auf jeden Fall kann Hirschhorn auf den Segen der Bieler Behörden zählen, die ihr Vertrauen in ihn gegen alle Widerstände behalten haben. Seit März ist in Biel eine Task Force tätig. Zwei Mitglieder der Stadtregierung sitzen nun im Stiftungsrat der Ausstellung.
Der Bieler Bildungs- und Kulturdirektor Cédric Némitz ist überzeigt, dass die Ausgabe 2019 der Ausstellung gerettet werden kann. «Wir haben mit dem Künstler Modalitäten gefunden. Wir werden es schaffen», sagte er Ende April gegenüber dem Schweizer Radio und Fernsehen SRF.
Die städtische Finanzdirektorin Sylvia Steidle spricht bereits von einem «aussergewöhnlichen Ereignis für Biel». Die Risiken eines Finanzlochs seien gering, sagt sie. Und sollte es schliesslich an Geld fehlen, könnte die Bieler Ausstellung auch verkürzt werden.
Hirschhorn selber gibt sich kämpferisch: «Die Dauer und eine Verkleinerung sind nicht verhandelbar. Es ist eine Frage von Leben und Tod», sagt er.
Engagierter Künstler
Die Karriere von Thomas Hirschhorn erreichte Anfang der 2000er-Jahre nach der Wahl von Christoph Blocher (Schweizerische Volkspartei, SVP) in den Bundesrat einen Wendepunkt.
2004 hatte Hirschhorn im Pariser Centre Culturel Suisse der Pro Helvetia für einen Skandal gesorgt, als er ein Theaterstück aufführen liess, in dem ein Komiker simulierte, auf eine Foto des Politikers zu pinkeln. Als Abstrafung kürzte das schweizerische Parlament darauf das Jahresbudget der Kulturstiftung Pro Helvetia um eine Million Franken.
Von 2004 bis zur Nicht-Wiederwahl des Zürcher Volkstribuns (2007) lehnte der Berner Künstler systematisch jede Einladung zu einer Ausstellung in der Schweiz ab.
«Ich musste etwas tun, was als Schweizer Bürger Sinn macht. Es war unerlässlich geworden aufzuwachen. Das hatte für mich einen Preis», sagt Hirschhorn.
«Diesen Preis zahle ich übrigens auch heute noch, aber ich mache es mit Stolz. Manchmal werde ich noch zu diesem Thema befragt. Es berührt mich nicht. Ich habe auf diese Weise bewusst reagiert. Und Christoph Blocher wurde schliesslich rausgeworfen.»
(Übertragung aus dem Französischen: Christian Raaflaub)
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