Archäologischer Schatz inmitten der Felder
Die kleine Waadtländer Stadt Orbe beherbergt das grösste und schönste römische Mosaik nördlich der Alpen. Der aussergewöhnliche Standort ist international anerkannt. Aber dieser archäologische Schatz zieht nur wenige Besucher an.
Auf den ersten Blick scheint der Standort wenig interessant zu sein: weite Felder, eine Autobahn-Zufahrt, Gefängnisgebäude ein paar hundert Meter entfernt.
In der Ortschaft Boscéaz in der Nähe der Stadt Orbe steht ein Gebäude aus Blech. Etwas weiter entfernt eine Art kleiner Pavillons aus Ziment, nichts Aufregendes bei oberflächlicher Betrachtung. Aber unter unseren Füssen befinden sich die Überreste einer majestätischen Konstruktion und in den Pavillons sind Mosaike aussergewöhnlicher Qualität zu bestaunen.
Ausgedehnte landwirtschaftliche Nutzung
Vor fast zweitausend Jahren beherbergte der Ort eine römische Stätte mit grossflächiger landwirtschaftlicher Nutzung. In dessen Zentrum befand sich die Wohnung des Besitzers, etwas weiter entfernt landwirtschaftliche Nebengebäude und Agrarland. Eine landwirtschaftliche Nutzungsform, die heute an Haciendas oder Fazendas Lateinamerikas erinnert.
Die Stätte erlebte ihre Blütezeit zwischen 170 und 270 n.Chr., Grösse und Reichtum des Sitzes waren aussergewöhnlich für die Region. «Die Behausung des Besitzers war sehr durchdacht. Einige Elemente wie die Säulenhalle und die Therme waren geteilt. Die Fülle von Mosaiken ist ebenfalls erstaunlich», sagt Yves Dubois, Archäologe an der Universität Freiburg und Präsident der Stiftung «Pro UrbaExterner Link«, welche die Stätte im Besitz des Kantons Waadt betreibt.
Aus nicht bekannten Gründen zerfiel die Stätte allmählich bis sie vollständig aufgegeben wurde. Die letzten Spuren einer Nutzung – Münzen – datieren aus den Anfängen des fünften Jahrhunderts. Seither dient der Ort als Steinbruch und die Stätte ist vollständig von der Oberfläche verschwunden. Die letzten Mauern waren im 18. Jahrhundert zerstört worden.
Selbst die Erinnerung an die Stätte war verschwunden: Man dachte, dass einige im 19. Jahrhundert entdeckte Mosaike aus einer verschwundenen Stadt stammten. Aber die grosse Trockenheit von 1976 liess die Fundamente deutlicher erscheinen.
Aussergewöhnliche Mosaike
Dank den Ausgrabungen einer ganzen Generation von Archäologen hat man heute «eine Gesamtübersicht der Stätte und eine gute Vorstellung der Funktionsweise», freut sich Dubois. Unter den ans Licht geholten Elementen befinden sich insbesondere ein Heizsystem, ein eindrückliches Kanalisationsnetz, Thermen sowie ein Heiligtum des Gottes Mithra.
Das eigentliche Schmuckstück der Stätte sind aber die Mosaike. Laut Experten sind die in Orbe ausgegrabenen Mosaike die bisher bedeutendsten nördlich der Alpen.
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Aussergewöhnliche Entdeckung
Und dies aus verschiedenen Gründen, wie Dubois sagt. «Erstens wegen der Quantität von neun entdeckten Mosaiken; zweitens wegen der Diversität; man findet geometrische Mosaike und bildliche Darstellungen; drittens wegen der Qualität, vor allem des Mosaiks der Gottheiten der Wochentage, die Medaillons sehr feiner Beschaffenheit und grafischer Gestaltung zeigen.»
Tiefe Besucherzahlen
Trotzdem kommen die Besucher nicht in Scharen. Als swissinfo.ch an einem Nachmittag im Ferienmonat Juli vor Ort ist, begegnet uns lediglich ein Paar und eine Familie.
Die offiziellen BesucherzahlenExterner Link für die Museen des Kantons Waadt bestätigen den Eindruck. In Boscéaz wurden 2016 insgesamt 2618 Besucher gezählt. Andere römische Museen hingegen verzeichneten im gleichen Jahr 15’214 (AvenchesExterner Link) und 8462 (NyonExterner Link) Besucher.
Selbst das römische Museum von VallonExterner Link im Kanton Freiburg, das weniger als 50 Kilometer von Orbe entfernt ist, konnte in seinem Jahresbericht 2017Externer Link immerhin 5456 Besucher ausweisen, obwohl es nur zwei Mosaike präsentieren kann.
Die beiden antiken Werke werden mit einem neuen Gebäude mit Cafeteria prominenter zur Schau gestellt als in Orbe. In diesen Räumen befinden sich ausserdem verschiedene Animationen wie Ateliers und zeitgenössische Ausstellungen.
In Orbe ist der Mangel an direkten Mitteln augenfällig. Zwischen den verschiedenen Pavillons gibt es keinen eigentlichen Weg. Man muss im Gras gehen, was während Regentagen nicht sehr angenehm ist. Im Innern einiger Pavillons ist es sogar schwierig, alle Details der Mosaike zu erkennen, weil einzelne Lampen nicht funktionieren.
Der Geldmangel hat auch einen Einfluss auf die Öffnungszeiten. 2017 konnte die Stiftung Pro Urba das Museum nur während 49 Tagen öffnen. In diesem Jahr ist es immerhin während 110 Tage zwischen Ostern und September geöffnet.
Grosses Potenzial
Dubois ist sich des Problems mit den Besucherzahlen bewusst. Einer der Gründe sei der Zugang zu den Bildern. «Vor dem Internet hätten die Besucher diese Mosaike allenfalls in den Schulbüchern oder auf Postkarten anschauen können. Heute sind sie alle auf Internetseiten ersichtlich.»
Die Lösung des Problems könnte eine Verbesserung der Infrastruktur und vor allem eine Erweiterung des Angebots sein. Es genügt nicht mehr, die Mosaike zu zeigen. «Wenn sich die Gesamtheit der Stätte aufwerten liesse, gäbe es viel mehr Dinge zu sehen, die man nicht anhand eines Dutzends Internetseiten verstehen könnte. Das würde den Anreiz erhöhen, die Stätte an Ort und Stelle zu besuchen», sagt Dubois.
Es wäre zum Beispiel möglich, den Alltag in der historischen Stätte zu erklären, das Funktionieren der Bäderheizung zu demonstrieren oder den Besuchern zu ermöglichen, sich im mannshohen Abwasser-Sammelbecken aufzuhalten. Das Potenzial für eine Aufwertung der verschiedenen Elemente ist immens.
Aber um dieses Potenzial auszuschöpfen und Besucher anzuziehen, braucht es Geld; Geld, das die Waadtländer Behörden nicht ausgeben wollen. Alles ist deshalb eine Frage der Geduld. Niemand weiss besser als die Archäologen, dass «Roma non uno die aedificata est…» (Rom nicht an einem Tag gebaut wurde…).
Via Francigena
Die Mosaike von Orb befinden sich auf der Via FrancigenaExterner Link, ein ehemaliger Pilgerweg, der im Mittelalter von Canterbury nach Rom, später nach Bari führte, von wo aus man mit dem Schiff ins Heilige Land aufbrechen konnte.
In der Schweiz erstreckt sich dieser Weg über etwas mehr als 200 Kilometer zwischen der Region des Sankt Bernhards (Walliser Alpen) und Sainte Croix (Waadtländer Jura).
swissinfo.ch publiziert regelmässig Reportagen über interessante Orte, die sich auf dem Schweizer TeilExterner Link dieses Wegs befinden.
(Übertragung aus dem Französischen: Peter Siegenthaler)
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