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Rüstiger Jubilar: Schillers Tell wird 200

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Die Urschweiz und das thüringische Weimar feiern 200 Jahre Friedrich Schillers Wilhelm Tell auf der berühmtesten Wiese der Schweiz, dem Rütli.

Am 17. März wurde in Weimar der Uraufführung des weit über die Schweiz strahlenden Vaterlandepos mit einem feierlichen Festakt gedacht.

Am 17. März 1804 fand in der mitteldeutschen Stadt Weimar die Uraufführung des Wilhelm Tell statt, des berühmtesten Dramas von Friedrich Schiller. Die künstlerische Leitung hatte sein Freund und Kollege Johann Wolfgang von Goethe. Das Stück ist auch 200 Jahre nach seiner Uraufführung äusserst aktuell.

Die mittelalterliche Wandersage vom einem Tyrannenmord begehenden Jägersmann stammt aus dem Norden Europas. Ihre Verbreitung nach Süden wurde an der Alpennordseite, im Urnerland, gestoppt.

In den letzten 500 Jahren hat sich die Geschichte zum Schweizer Nationalepos entwickelt. Denn jedes Land braucht einen Nationalhelden. Frankreich präsentiert Jeanne d’Arc, die Italiener haben ihren Giuseppe Garibaldi, die USA Abraham Lincoln und die Schweiz ist eben stolz auf ihren Wilhelm Tell.

Mächtiger Mythos

Frau d’Arc und die Herren Garibaldi und Lincoln waren Menschen aus Fleisch und Blut. Eine gesicherte Existenz von Wilhelm Tell dagegen ist nirgends verbrieft. Normalsterbliche haben meist wenig Chancen gegen einen Superhelden? Der Kampf gegen einen Mythos ist schwierig.

«Tell hat seine heroischen Taten jedoch nicht nur zum Wohle der Schweiz getan», ist Barbara Piatti überzeugt.

Die Verfasserin einer Kulturgeschichte zu Schillers Tell, die zu Ehren des Tell-Jubiläums am 17. März in Weimar unter dem Namen «Tells Theater» präsentiert wurde, stellte bei ihren Recherchen fest, dass Wilhelm Tell, Schweizer Nationalepos, in Deutschland eine sehr ähnliche Funktion erfüllt hatte.

«In weiten Teilen des 19. Jahrhunderts war Deutschland eigentlich noch gar keine Nation, es bestand aus vielen, meist kleinen Einzelstaaten», sagt Piatti. Die Tellgeschichte mit der Vereinigung von Uri, Schwyz und Unterwalden hatte damals eine echt revolutionäre Funktion.

«Tell war lange eine Vision der Liberalen in Deutschland. Und genau so bildete das Stück den Hintergrund für die Gründung des schweizerischen Bundesstaates 1848.»

In Weimar ist man sich der Bedeutung Tells für beide Länder wohl bewusst. Deshalb wurde der Uraufführung feierlich gedacht – nicht aber mit einer Theater-Aufführung, sondern mit einem Konzert und einem Empfang des Schweizer Botschafters, Werner Baumann.

Die Rütliwiese, mystischer Mittelpunkt der Schweiz

Der ersten Aufführung wird am 23. Juli in einer Freilichtaufführung auf der berühmtesten Wiese der Schweiz, dem Rütli, gedacht. Das Rütli ist das Herzstück der Schweiz, das mit dem schweizerischen Nationalempfinden sehr eng verknüpft ist. Hier soll ja auch der erste Bund der drei Waldstätte feierlich beschlossen worden sein.

An diesem geschichtsträchtigen Ort wird die Inszenierung des Deutschen Nationaltheaters Weimar, unter der Leitung des Schweizer Generalintendanten Stephan Märki, in Szene gesetzt.

Die Inszenierung steht in direkter Konkurrenz zur Neuinszenierung im eigens 1925 für den Wilhelm Tell gebauten Tellspielhauses im urnerischen Altdorf.

Uralte Tradition

Da wird der Tell seit mittlerweile fast 500 Jahren aufgeführt, also schon lange bevor sich Friedrich Schiller des Themas annahm. Aber erst mit Schillers Tell ist aus dieser Tradition heraus ein nationales Festspiel entstanden.

Die Tellspiel- und Theatergesellschaft Altdorf, übrigens nur aus Laienschauspielern bestehend, hat den Wilhelm Tell stets zeitbezogen interpretiert. Die Neuinszenierung des Jubiläumsjahres 2004 wurde vom Schriftsteller und Dramatiker Hansjörg Schneider bearbeitet.

Die Altdorfer gebrauchen für ihre Interpretation zwei Sprachen: Hochdeutsch und Schweizerdeutsch. «Wenn wir Schweizer von unseren Gefühlen sprechen,» erklärte Regisseur Louis Naef an der Medienorientierung in Weimar, «gebrauchen wir unseren Dialekt». Aus diesem Grund werden die Liebesszenen in Schweizer Mundart gespielt.

«Wenn es aber um Politik geht,» sagte Naef weiter, «dann schalten wir um auf die Hochsprache, wie wir das im Parlament in Bern auch tun».

Kulturelle Annäherung

Mit «Tell, bitte melden» geht das Musée Suisse im Forum der Schweizer Geschichte in Schwyz mit einer Ausstellung und einem Kulturprogramm zur Wirkungsgeschichte des Mythos Tell auf Spurensuche.

Damit die deutsche und die schweizerische Kultur sich gegenseitig besser kennen lernen können, veranstaltet «Tell, bitte melden» unter anderem einen Schüleraustausch zwischen deutschen und schweizerischen Schülerinnen.

Eine derartige Initiative scheint auch durchaus nötig zu sein, betrachtet man die momentan doch leicht angespannten Beziehungen zwischen der Schweiz und ihrem grossen nördlichen Nachbarn, der manchmal auch fast liebevoll «unser grosser Kanton» genannt wird.

Und ohne Tell?

Bleibt die Frage, was denn Weimar und die Schweiz ohne Wilhelm Tell verbindet. Barbara Piatti antwortet: «Weimar und die Urschweiz befinden sich beide in der Provinz.»

Beide Orte haben laut Piatti jedoch einen starken, symbolhaften Charakter, nicht nur durch den Tell, sondern weil beide ein Kondensat der Geschichte ihrer Länder sind.

Weimar hat alles erlebt: Von den Höhen der deutschen Klassik bis zur Hauptstadt Deutschlands, vom Konzentrationslager Buchenwald bis zur zweiten Diktatur der DDR, die Wende, die Öffnung. Es ist also ein Kristallisationspunkt der deutschen Geschichte.

Die Urkantone mit der Hypothek, der Gründungsort der Eidgenossenschaft zu sein, waren immer sehr symbolbefrachtet, eben ein zentraler Ort in der Schweiz, sagt Piatti weiter.

Und: «Interessanterweise sind das zwei Landschaften, nicht Metropolen wie London oder Paris, oder Berlin.»

swissinfo, Etienne Strebel, Weimar

«kulturschweiz 2004» ist die «Dach-Organisation» der 3 Wilhelm Tell-Jubiläumsveranstaltungen: Schillers Tell vom Deutschen Nationaltheater Weimar auf dem Rütli, die Aufführungen des Tellspielhauses in Altdorf und den Angeboten des Forums der Schweizer Geschichte in Schwyz.
Aufführungen auf dem Rütli: 23. Juli bis 29. August 2004.
Neuinszenierung der Altdorfer Tellspiele 14. August bis 16. Oktober 2004.
Ausstellung und Kulturprogramm «Tell, bitte melden» im Forum der Schweizer Geschichte in Schwyz, 19. Juni bis 30. November 2004.

2004 jährt sich die Uraufführung des Wilhelm Tell von Friedrich Schiller das 200. Mal.

Der Stoff wurde von Goethe bei einer seiner Schweizer Reisen am Vierwaldstättersee entdeckt und an Schiller vermittelt. Der schrieb in Weimar sein grosses Schauspiel, das letzte, das er vor seinem Tod vollenden konnte.

Mit dem Jahrestag versuchen die Veranstalter in der Schweiz und Deutschland, mit verschiedensten Events einen kulturellen Brückenschlag zwischen der Urschweiz und Weimar herzustellen.

Die Schweiz gedachte übrigens noch vor Weimar des Jubiläums: Die Vereinigte Bundesversammlung eröffnete ihre Sitzung am Mittwoch für einmal mit Musik: mit einem Stück aus der «Wilhelm-Tell»-Ouvertüre von Rossini.

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