Schweiz ist immer noch eine Quelle der Kreativität
Vor 60 Jahren war die Schweiz das Zentrum des typografischen Universums. Weltschriftarten wie Helvetica oder Univers entstanden hier. Das Internet und die Nutzung von Bildschirmen haben die Industrie revolutioniert, doch Schweizer Schriftdesign bleibt gefragt.
«Worte können meinen Ekel nicht fassen!», «Ein trauriger Tag», «So berechenbar, so langweilig, so büromässig». Nicht vielen Leuten liegen Schriftarten und Zeichensätze am Herzen. Doch jene, denen diese etwas bedeuten, setzen sich mit Herzblut dafür ein.
Geharnischt fielen deshalb die Reaktionen aus, als 2009 der Möbelriese Ikea seine Schriftart wechselteExterner Link. Von FuturaExterner Link, der zeitlosen, unter anderen von Volkswagen oder Calvin Klein benutzten Schrift, zu VerdanaExterner Link, der omnipräsenten Bildschirmschrift, die für Microsoft geschaffen worden war.
Diese «Fontroverse» unter Grafikern ging an der Schweiz praktisch vorbei. Doch auch der Geburtsort der so genannten Schweizer Typografie (in anderen Ländern als International Typographic StyleExterner Link bekannt) – wie die neuen Schriften mit asymmetrischen Layouts, auf einem Netzgitter basierend und ohne Abschlusslinien (Sans Serif) genannt werden – erlebte den einen oder anderen Rückschlag.
«Es gab eine Zeit in den 1980er- und 90er-Jahren, als HelveticaExterner Link bei avantgardistischen Grafikern aus der Mode gekommen war», sagt Robert LzicarExterner Link, Grafik-Historiker und Leiter des Master-Programms für Kommunikationsdesign an der Hochschule der Künste BernExterner Link (HKB).
Das goldene Zeitalter der schweizerischen Typografie begann 1957, als das vom Bauhaus beeinflusste funktionelle Design zur Geburt von Helvetica und UniversExterner Link führte. Diese reduzierten, sauberen und gut lesbaren Schriftarten fingen den Zeitgeist ein und erlangten die Aufmerksamkeit von Grafikern auf der ganzen Welt – besonders in den USA. Helvetica, benutzt von Nestlé, Lufthansa, der New Yorker U-Bahn, McDonald’s und vielen mehr, war 2007 sogar Thema eines Dokumentarfilms.
«Die Schweiz war sicherlich sehr kreativ im Design von Fonts, doch es gab hier nie eine grosse Schriftarten-Industrie», sagt Lzicar.
Fachchinesisch
Eine Schriftart (auch Schriftfamilie genannt) ist ein Set eines oder mehrerer Fonts (Zeichensätze), bestehend aus Glyphen (die grafische Darstellung eines Schriftzeichens) mit den gleichen Design-Merkmalen. In der digitalen Typografie ist ein Font eine digitale Datei, welche die Schriftart beinhaltet. Die Schriftart ist, was man von dieser Datei sieht.
Jeder Font einer Schriftart hat spezifische Charakteristiken wie Strichstärke, Stil, verschiedene Schriftbreiten in einem Buchstaben, Kursivschrift, Verzierungen (und früher, beim Schriftsatz, Schriftgrösse). Dem Neue Helvetica Complete Family PackExterner Link auf fonts.com beispielsweise gehören 51 Fonts an.
Ein Font kann mit Serifen sein (Römische Schrift genannt), oder ohne, also Sans Serif (auch Grotesk- oder Gotische Schrift genannt). Eine Serife ist eine Linie, die einen Buchstabenstrich am Ende quer zu seiner Grundrichtung abschliesst.
«Und so sieht es noch heute aus: In der Schweiz gibt es viele kleine Schriftenhersteller, die innovative Schriftarten entwerfen, aber es gibt keine grosse Nummer wie Monotype in den USA, dessen Labels Linotype oder Fontshop International Schriftarten weltweit verkaufen und lizenzieren.»
Ausprobieren
Eines der «grösseren» kleinen Schriftdesign-Unternehmen ist Swiss TypefacesExterner Link in Lausanne. Dessen Mitbegründer, der 38-jährige Ian PartyExterner Link, sagt, die Industrie sei «in bester Gesundheit». «Anfang der 2000er-Jahre war es schwierig für Schriftdesigner, weil es eine Explosion der Angebote gab, die nötige Nachfrage-Explosion aber ausblieb», sagt er.
Mit dem Internet und Schriftdesign-Software war es plötzlich jedem Computerbenutzer möglich geworden, praktisch über Nacht eigene Schriften zu entwickeln. «Wir standen an einem Scheideweg, als sich alle Grafiker einen PC anschafften. Zuvor waren Schriftarten eine recht komplexe und sehr professionelle Angelegenheit, entworfen von Leuten mit spezifischen künstlerischen und technischen Fähigkeiten», sagt Party.
«Dann merkten die Leute plötzlich, dass es – auch wenn nicht ganz einfach – möglich wurde, Schriftarten rasch zu entwickeln und Designs anderer Leute zu digitalisieren. Unter Grafikern herrschte die Meinung vor, dass man nun seine eigenen Schriften entwarf.»
Lzicar ergänzt: «Während den späten 1980er- und den frühen 90er-Jahren stellten Design-Projekte sogar die Lesbarkeit von Schriften in Frage!» Es habe damals eine «Gegenbewegung» gegen traditionelle Schweizer Schriftarten gegeben. «Es wurde viel mehr ausprobiert als heute.»
Welthit
Doch eine gute Schriftart lässt sich nicht wegsperren, und nach den wilden experimentellen Jahren der Computerrevolution – mit teils unglaublich hässlichen Schriftarten – besannen sich die Grafiker wieder der guten alten Sans-Serif-Schriften (wie Open SansExterner Link, in der Sie gegenwärtig diesen Text lesen).
2004 entwarf Laurenz Brunner, ein junger Schweizer Grafiker, AkkuratExterner Link. Die Schriftart wurde für seinen Arbeitgeber LinetoExterner Link, der Schriften übers Internet vertreibt, zu einem weltweiten Erfolg. Brunner schrieb darüber: «2006 und 2007 wuchs unter Grafikern das Interesse an einem ‹objektiven› typografischen Stil, der viele der klassischen Schweizer Prinzipien wiederaufleben lässt. Akkurat wurde so zu etwas wie einem Vorzeigekind für diese Bewegung.»
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Zeitgenössische Schweizer Typografie im Einsatz
Lzicar pflichtet bei, ein grosser Teil des Erfolgs von Akkurat sei die Tatsache, dass sie «die erprobten Prinzipien ihrer Vorgängerschriften den Bedürfnissen der Weltwirtschaft angepasst» habe. Die Schriftart habe keine «einschränkenden Charakteristiken», erklärt er, «weshalb Grafiker sie für verschiedenste Verwendungszwecke nutzen können. Dies machte Akkurat zu einem der weltweiten Hits der zeitgenössischen Schriftgestaltung in der Schweiz».
Tatsächlich ist Akkurat lediglich eine von zwei Schweizer Schriftarten (gemeinsam mit SangBleuExterner Link von Ian Party), die es ins Buch «The Geometry of Type: The Anatomy of 100 Essential Typefaces» geschafft haben. Akkurat wird darin beschrieben als «verwurzelt in der Schweizer Tradition pragmatischen, rationalen Designs», während SangBleu als «sehr sexy Drucktype und würdiger Nachfolger der angestaubten OptimaExterner Link» bezeichnet wird.
Geschäftsplan
Soll also, wer viel Geld machen will, Schriftendesigner werden? «Nein. Auf keinen Fall!», warnt Lzicar. «Der Arbeitsaufwand, den es für das Design einer ganzen Font-Familie braucht, ist enorm. Vielmehr sollte man eine Firma zur Herstellung von Schriften gründen – das ist viel lukrativer, weil man die Lizenzen vergeben kann.»
«Die Wahl der richtigen Schriftart ist wie ein DJ, der das richtige Musikstück auswählt»
«Doch auch in diesem Fall ist es sehr unwahrscheinlich, dass man einen Bestseller wie Akkurat im Portfolio hat. Es gibt so viele Schriftarten [über 150’000 allein auf «fonts.com», N.d.R.]. Es ist wirklich schwierig, über lange Zeit Erfolg auf dem Markt zu haben.»
Laut Ian Party wissen Grafiker, dass sich Sans-Serif-Schriften gut verkaufen lassen. «Wenn man also eine Schriftart ähnlich wie Helvetica gestaltet, ist das zu einem grossen Teil ein Geschäftsentscheid. Hinter jeder Schriftart ist ein Geschäftsplan. Wir analysieren den Markt, versuchen herauszufinden, was sich gut verkaufen lässt, entscheiden, was der Markt braucht und wie wir einen Profit machen können».
Party, der auch an der Kunsthochschule Ecal in LausanneExterner Link Schriftdesign lehrt, entwickelte die «Suisse Font Family», die zum grössten Verkaufsschlager von Swiss Typefaces wurde. Suisse InternationalExterner Link ist wie Helvetica eine Schriftart ohne Serifen.
«Es besteht offensichtlich eine grosse Verbindung zwischen den beiden», gibt er zu. «Es gibt einen Einfluss, weil wir Grafiker sind, die aus der Schweizer Kultur kommen und in der Schweiz grafische Gestaltung studiert haben. Zur typografischen Kultur der Schweiz gehören Helvetica und Univers, die in unserer Ausbildung sehr präsent waren.»
Nationale Identität
Der Schweizer Stil der 1950er- und 60er-Jahre war bekannt für seine Aufmerksamkeit fürs Detail, Präzision, Fachausbildung, sogar Neutralität – Charakteristiken, die mit der nationalen Identität in Verbindung gebracht werden. Was sagen also zeitgenössische Schriftarten über die heutige Gesellschaft?
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«Die Welt verändert sich – wie auch die Grafik»
«Open Switzerland»Externer Link, 2013 gestartet, ist ein Grafikprojekt, das die ikonische Schweizer Bildsprache mit der massgeschneiderten Schrift BaseticaExterner Link zusammenbringt. Leserinnen und Leser werden dabei aufgefordert, ihre eigenen Poster zu kreieren und «die Idee der Identität eines Landes herauszufordern».
Der Gestalter von Basetica, Matthieu CortatExterner Link, erzählt im Interview (rechts), was die Herausforderung dabei war, Helvetica zu überarbeiten, wie das Resultat die Schweiz des 21. Jahrhunderts spiegelt, und er bietet einen Einblick in den technischen Prozess bei der Gestaltung einer Schriftfamilie.
Cortat wurde im französischsprachigen Delsberg geboren, doch der deutschsprachige Lzicar glaubt nicht, dass es in der Grafik grosse Unterschiede zwischen den schweizerischen Sprachregionen gibt: «In der zeitgenössischen Grafik werden Ideen über politische und kulturelle Grenzen hinweg ausgetauscht. Deshalb sehen verschiedene Schriftarten recht ähnlich aus. Ich glaube nicht, dass es heute noch regionale oder nationale Stile gibt – es ist eine internationale Szene.»
Revolution der Auflösung
Tatsächlich war der Trend mit dem grössten Einfluss auf die zeitgenössische Schweizer Typografie der fortdauernde Wechsel der Konsumenten von Papier auf Bildschirme, immer mehr auf mobilen Geräten.
«Das beeinflusst das gesamte Konzept einer Schriftart, weil man auf dem Bildschirm nicht Linien und Flächen sieht, sondern Pixel. Nun werden die Bildschirme kleiner, die Auflösung aber nimmt zu. Trotzdem ist es manchmal immer noch schwierig, etwas auf dem Bildschirm statt auf Papier zu lesen – bei längeren Texten sind gedruckte Serifenschriften immer noch meine erste Wahl», sagt Lzicar.
Er hofft, dass die Serifenschriften wegen der zunehmenden Pixel zu einer Renaissance kommen könnten. «Das Medium verändert die Art und Weise, wie die Dinge wahrgenommen werden, komplett «, sagt er.
Und genau darum ging es bei der Kontroverse um die Wahl von Ikea für Verdana, eine serifenlose Schriftart, die für gute Lesbarkeit in kleinen Grössen geschaffen wurde und auf Bildschirmen beliebt ist, vergrössert in Magazinen oder auf Plakaten aber ihre Form verliert.
Für Lzicar schliesslich ist die Wahl der richtigen Schriftart «wie ein DJ, der das richtige Musikstück auswählt»: Die Auswahl ist abhängig vom Kontext, von der Stimmung und vom Publikum.
(Übertragen aus dem Englischen: Christian Raaflaub)
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