Hannah Villiger – Pionierin des Selfies mit der Polaroid-Kamera
Das Schweizer Institut in Rom zeigt die erste grosse Einzelausstellung der Schweizer Künstlerin Hannah Villiger (1951-1997) in Italien. Diese hatte mehrere Jahre in der italienischen Hauptstadt gelebt und gearbeitet. Die Ausstellung bietet einen detaillierten Einblick in den künstlerischen Werdegang Villigers. Obwohl sie fotografierte – ihr Medium war die Polaroid-Kamera –, verstand sie sich als Bildhauerin.
Die Schau «Works/Sculptural»Externer Link ist die erste grosse Einzelausstellung in Italien, die der 1997 verstorbenen Künstlerin gewidmet ist. Zu sehen ist sie bis zum 27. Juni 2021 im Istituto SvizzeroExterner Link, dem Schweizer Kulturinstitut in Rom.
Es handelt sich um eine einmalige Möglichkeit, das Werk dieser aussergewöhnlichen Künstlerin zu entdecken beziehungsweise wiederzuentdecken.
Hannah VilligerExterner Link wird in den 1980er-Jahren mit grossformatigen Fotografien berühmt. Die Künstlerin fotografiert zumeist ihren eigenen Körper, tastet ihn mit der Polaroidkamera ab und schafft fragmentierte, teils abstrakte Körperbilder.
Die Ausstellung gibt einen umfassenden Einblick in das Oeuvre der Künstlerin und zeigt Arbeiten aus allen Schaffensphasen. Zugleich liegt ein besonderer Fokus auf Hannah Villigers Aufenthalt am Istituto Svizzero; so werden die Arbeitstagebücher sowie weiteres Arbeits- und Recherchematerial präsentiert.
Die von Gioia Dal Molin kuratierte Ausstellung wird ergänzt durch eine Publikation, die im Sommer 2021 erscheint und die Fotografien der Arbeitstagebücher sowie Texte von Elisabeth Bronfen, Gioia Dal Molin, Quinn Latimer und Thomas Schmutz enthält.
Ausbildung in Luzern
Hannah Villiger war nach ihrer Ausbildung an der Schule für Gestaltung in Luzern als Stipendiatin nach Rom gegangen. Und sie blieb noch ein Jahr nach dem Ende ihres Stipendiums – bis 1977.
Diese Zeit in der Ewigen Stadt erwies sich als entscheidend für die Entwicklung ihrer Bildsprache, denn während ihres Aufenthaltes näherte sie sich der römischen Kulturszene an und liess sich durch die «Arte Povera» inspirieren.
Damals nahm die Künstlerin bereits an wichtigen europäischen Kunst-Events teil. Im Herbst 1975 vertrat sie die Schweiz gemeinsam mit anderen Schweizer Künstlern wie John Armleder oder Martin Disler an der neunten Biennale von Paris.
Die Rückeroberung des Körpers
Das Interesse an der Fotografie setzte sich bei Villiger in den 1980er-Jahren endgültig durch. Sie entdeckte damals die Unmittelbarkeit der Polaroidkamera als endgültige Dimension und als Mass ihrer ästhetischen Vorstellungen.
Probleme mit ihrer Gesundheit könnten diesen künstlerischen Weg begünstigt haben. Denn diese Technik und Ausdrucksform mit Polaroid-Bildern erlaubten ihr, den mühsamen Gang ins Labor zur Entwicklung von Filmnegativen zu vermeiden. Was wohl noch wichtiger war: Ihr kam die Geschwindigkeit der Visualisierung des Fotografierten entgegen – als Kontrapunkt zur Wandelbarkeit und Zerbrechlichkeit ihres täglichen Lebens.
Ihr Körper wird in diesem Moment zum privilegierten Objekt der künstlerischen Selbsterforschung. Sie entwickelte eine fast rituelle Praxis im Rahmen von Arbeitssitzungen innerhalb einer «Arena» – einem weissen Tuch auf dem Boden. Hier werden die Formen des Körpers einem Prozess der Metamorphose unterworfen. Die Kamera ist maximal eine Armlänge entfernt.
Diese Experimente reihen sich in eine künstlerische Tendenz der damaligen Zeit ein, in der sich Künstlerinnen das Genre des Selbstporträts zu eigen machen, ein Genre, das historisch den Männern vorbehalten war. In diesem Zusammenhang lässt sich auf Eleanor Antin, Ana Mendieta oder Cindy Sherman verweisen.
In Europa stark präsent
In den 1980er- und 1990er-Jahren stellte Hannah Villiger ihre Arbeiten in wichtigen europäischen Institutionen wie der Kunsthalle Basel (1981 und 1985), dem Centre Culturel Suisse in Paris (1986), dem Museum für Gegenwartskunst in Basel (1988/1989) und dem Kunstverein in Frankfurt (1991) aus.
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Aus Sicht der künstlerischen Sprache tendieren die Fotografien zu extrem fragmentierten, fast abstrakten und radikalen Bildern, in denen die Erkennbarkeit der Körperteile im Grunde verschleiert wird.
Hannah Villiger verbrachte ihre letzten Lebensjahre in Paris, wo sie seit 1986 lebte. Diese Zeit war geprägt von ihrer Teilnahme an der 22. Biennale von São Paulo, wo sie 1994 mit der Künstlerin Pipilotti Rist die Schweiz vertrat. Diese Kunstbiennale war eine der bestbesuchten in der Geschichte Brasiliens, mit 70 Teilnehmerländern und eine Rekordzahl von Besucherinnen und Besuchern.
Bis zu ihrem Lebensende führte Hannah Villiger ihre künstlerische Produktion fort. Trotz ihres schlechten Gesundheitszustands und Spitalaufenthalten erstellte sie im Frühjahr 1997 immer noch ihre Polaroid-«Blöcke». Sie starb im August desselben Jahres an einem Herzversagen im Kanton Aargau, wenige Tage nach ihrer Rückkehr in die Schweiz,
Genaue Einblicke in Schaffensprozess
In der Schau wechseln sich grossformatige Fotoarbeiten ab mit Aufzeichnungen, Notizen, Dokumenten und Zeichnungen, so dass die Gesamtschau zu einem monumentalen Tagebuch wird, in dem die Hierarchie zwischen Werk und Notiz zugunsten einer Gesamterzählung aufgegeben wird.
Der Zeitrahmen der gezeigten Werke beginnt mit Werken aus den 1970er-Jahren und schliesst mit zwei fotografischen Arbeiten aus den letzten Lebensjahren (1996; 1995/97), die im ersten Raum platziert sind, gerade so, als ob so die kreisförmige und fliessende Struktur der Ausstellung unterstrichen werden soll.
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Die folgenden Räume führen durch eine Ansammlung von Bildern und Skizzen, die die Visionen und Liebesaffären der Künstlerin wiedergeben und das transformative Potenzial ihrer Obsessionen und deren fortschreitende Synthese zu reiferen Experimenten dokumentieren.
Skulpturale Fotografien
Die Darstellung des Körpers steht zweifellos im Zentrum der Werke in dieser Ausstellung. Einige Arbeiten weichen von diesem zentralen Thema ab – etwa Von der Terrasse, der Baum (1984/85) im ersten Raum der Ausstellung sowie die im letzten Raum platzierte Auswahl von «weggeworfenen» Polaroids.
Die Konzentration auf eine dritte Raumdimension des fotografischen Bildes, welche über die Zweidimensionalität der Aufnahme hinaus reicht, ist ein grundlegendes Element im Werk der Künstlerin. Sie selbst ging sogar so weit, ihre Arbeiten als «skulptural» zu definieren, was der Titel der Ausstellung reflektiert.
Verdrehte Architekturen im Raum, Mondlandschaften, Hügel und Senken erscheinen in ihren Bildern und erzeugen eine Art Kurzschluss in der anatomischen Funktion des Dargestellten. Und es sind genau diese Brüche, die Ausdruck des Wunsches nach einer Wiederaneignung des Körpers sind – Ausdruck auch einer bewusst weiblichen und historischen Sichtweise.
«Durch die ständige Wiederholung wird mein Körper zu ‹einem Körper'», sagte die Künstlerin. So wird diese obsessive «Zerstückelung» des Körpers zu einer Ausweitung des Willens, einen universellen Körper zu schaffen, der nicht mehr erkennbar und daher uneinnehmbar ist.
(Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob)
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