Alberto Giacometti: Rot, aber frei
Alberto Giacometti diente zu Lebzeiten mit seiner Kunst auch dem Kommunismus. Eine Ausstellung in Paris zeigt nun seine wenig bekannten Porträts vom französischen Résistance-Kämpfer Rol-Tanguy.
Nachdem er die Kriegsjahre in der Schweiz verbracht hatte, kehrte Alberto Giacometti im September 1945 in sein Pariser Atelier an der Rue Hippolyte-Maindron zurück.
«Seit meinem letzten Brief ist vieles geschehen, das mich daran gehindert hat, Dir zu schreiben», berichtete der Bündner Künstler seiner zukünftigen Frau Annette Arm. «Ich habe in den letzten zwei Wochen Tag und Nacht gearbeitet, so viel wie noch nie. Ich interessiere mich für nichts anderes mehr und lese auch keine Zeitungen.»
Sein Freund, der kommunistische Dichter Louis Aragon, hatte ihn mit Rol-Tanguy bekannt gemacht, dem Mann der Stunde in Paris. Der Held der Résistance liess sich in Giacomettis Atelier bereitwillig zu endlosen Posen hinreissen – «auf unbequemen Stühlen, während Giacometti dem Revolutionär jede Bewegung untersagte», wie in einer Beschreibung des Pariser Musée de la Libération steht, das diese Werke zurzeit ausstellt.
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Zwischen dem Künstler mit dem schlechten Haarschnitt, der zu sehr von seiner Kunst besessen war, um wirklich ein Bohemien zu sein, und dem jungen Widerstandskämpfer, der während der Befreiung der Hauptstadt die Franc-Tireurs et Partisans befehligte, sprang der Funke rasch über. «Er gefällt mir sehr und hat einen schönen Kopf, sieht aus wie ein junger General von Napoleon und ist sehr lebhaft und intelligent», schrieb Giacometti an Annette.
Die Ausstellung «Rol-Tanguy von Giacometti» zeigt rund vierzig Werke, die aus der Begegnung der beiden Männer im Jahr 1946 hervorgegangen sind, darunter 17 Kleinplastiken und Zeichnungen. Zudem können Besucher im Untergeschoss des Musée de la Libération den Nachbau eines Bunkers besuchen, von dem aus Rol-Tanguy den Widerstand gegen die Besetzer Nazi-Deutschlands plante
Gefährten der Strasse
Im Nachkriegs-Paris war es von Vorteil, entweder Kommunist oder Gaullist zu sein. Giacometti besass zwar keinen Ausweis der Kommunistischen Partei Frankreichs (PCF), aber seine Vergangenheit machte ihn zu einem respektablen «Mitläufer», wie Intellektuelle und Künstler, die sich für die Weltrevolution engagierten, damals genannt wurden. Er war ein langjähriger Freund von Aragon, dem «offiziellen» und talentierten Dichter der PCF, der oft die Verbrechen des Stalinismus verklärte.
Vor dem Krieg war Giacometti der Vereinigung revolutionärer Schriftsteller und Künstler beigetreten, in der sich damals viele Sympathisanten der PCF zusammenschlossen. In einem Brief an seinen surrealistischen Mentor André Breton schrieb er: «Ich habe Zeichnungen für den Kampf gemacht, Zeichnungen mit einem greifbaren Thema, und ich denke, ich werde damit fortfahren. Ich werde in diesem Sinne alles tun, was im Klassenkampf von Nutzen sein wird.»
Auf einer seiner Zeichnungen stellte der Schweizer Künstler mit blauer Tinte «einen japanischen Soldaten mit Säbel dar, der – einen Fuss auf Japan, den anderen auf China – den Grenzposten der UdSSR bedroht. Das Plakat sollte bei einer Demonstration eingesetzt werden, aber es wurde nie etwas damit gemacht», berichtete Aragon.
Kurzum, Giacometti bewies, dass er grundsätzlich «rot» genug war, um das Profil des kommunistischen Helden zu formen. Man erwartete somit auch ein prachtvolles Porträt von Rol-Tanguy mit Pistole und roter Fahne in der Hand. Aber Giacometti blieb sich treu. Es wollte nicht der offizielle Künstler des Kommunismus werden, sondern seine eigenen Ideen umsetzen. So stellte er Rol-Tanguy in einer Reihe von kleinen Gipsköpfen dar, die auf einen Sockel montiert oder einfach auf einen Nagel gesteckt werden konnten. «Giacometti durchsucht buchstäblich deine Physiognomie», berichtete Rol-Tanguy später.
Für Giacometti stand die Kunst stets an erster Stelle, das politische Engagement an zweiter. Als die Partei plante, dem kommunistischen Helden und Märtyrer Gabriel Péri ein Denkmal zu setzen, griff der Schweizer den «Schreitenden Mann» auf, die dürre Figur, die er später oft verwenden sollte. Die Kommunisten reagierten jedoch mit Wut und Unverständnis und interpretierten den Bronzeguss als ausgemergelten KZ-Überlebenden.
Ein wahrer Giacometti-Hype
Es ist zurzeit schwierig, durch die Museen Frankreichs zu gehen, ohne dem Mann aus dem Bergell zu begegnen. Ob in Fondation Maeght in Saint-Paul-de-Vence, im Grimaldi Forum in Monaco, im Institut Giacometti in Paris, oder auch in Porto: Das Jahr 2021 stand vielerorts ganz im Zeichen Giacomettis.
Die Ausstellungen zeigten nicht nur Giacometti, den «Krypto-Kommunisten», sondern auch Giacometti, den Ägyptenfanatiker oder den Mann aus Stampa, der in einer berühmten Künstlerfamilie aufwuchs.
Die Museen verzeichneten oft Rekordbesucherzahlen. Die Zeitung Le Monde sieht im Giacometti-Hype die «Rückkehr des Künstlers zur Gnade», nachdem sich die Fachwelt jahrelang in Zurückhaltung übte gegenüber einem Künstler, der für viele zu frei gewesen war.
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Alberto Giacomettis Skulpturen und Atelier
«Giacometti ist beim Publikum sehr beliebt», sagt Catherine Grenier, Direktorin der Giacometti-Stiftung und Biografin des Künstlers. «Vielleicht, weil er nicht nach Ehre, Luxus oder Reisen strebte, sondern stattdessen sehr einfach lebte. Jeder konnte sein Atelier besuchen, er war oft im Café, und man kam sehr leicht mit ihm ins Gespräch. Es ist diese Lebensweise, die ihn zu einer Referenzfigur macht.»
Dank der Giacometti-Stiftung, die immer mehr Werke an Museen ausleiht, «kann das Publikum die ganze Bandbreite seines Werks entdecken und nicht nur den ‹Schreitenden Mann'», fügt Grenier hinzu.
Rol-Tanguy von Giacometti wird bis zum 30. Januar 2022 im Musée de la Libération de Paris gezeigt.
Übertragung aus dem Französischen: Christoph Kummer
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