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Schweiz soll bei Nazi-Raubkunst Karten offenlegen

Egon Schiele, Bildnis Wally (1912). 1998 in den USA als Raubkunst sichergestellt, kehrte es nach 12-jährigem Rechtsstreit und einer Einigung mit einer Erbin einer früheren Besitzerin 2010 ans Wiener Leopold-Museum zurück. akg images

Die Schweiz war im Zweiten Weltkrieg auch Drehscheibe für den Handel mit Raubkunst. Der Schlüssel zur Klärung der Eigentumsrechte an den von den Nazis gestohlenen und enteigneten Kunstgütern sei deshalb hier zu suchen, sagen Experten.

Den noch lebenden Mitgliedern jüdischer Familien, deren Kunstsammlungen von den Nazis in Deutschland und dem von ihnen besetzten Europa geplündert worden waren, läuft die Zeit davon. Zermürbt vom juristischen Hickhack um den Nachweis der Eigentumsrechte, haben viele rechtmässige Erben aufgegeben.

Internationale Experten betrachten die Schweiz als Teil des Problems, aber auch der Lösung. Der Ansatz: Je besser die Verkäufe dokumentiert sind, die damals in der Schweiz getätigt wurden, desto schwieriger wird es für heutige Besitzer, die Herkunft ihrer Kunstgüter zu ignorieren.

Von den 600’000 Werken, welche die Nazis zwischen 1933 und 1945 den Besitzern gestohlen oder Museen enteignet hatten, gelten heute rund 100’000 immer noch als vermisst.

Verstärkte Bemühungen um die Rückgabe von Raubkunst stossen bei Museen auf immer stärkeren Widerstand, weil der Eigentumsnachweis Lücken aufwiese, zu viel Zeit vergangen sei und grosse Kunst sowieso für die Öffentlichkeit zugänglich sein sollte, so die Argumentation.

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Keine einfachen Lösungen für Schweizer Museen

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht «Madame La Suire» des Schweizer Malers Albert von Keller hatte dem jüdischen Kunsthändler Alfred Sommerguth gehört. Zusammen mit 106 anderen Bildern raubten es ihm die Nazis und verkauften es, bevor Sommerguth in die USA fliehen konnte. In einer Ausstellung, in der das Kunsthaus Zürich eine ihm geschenkte Sammlung zeigte, wurde das Werk identifiziert. Das Museum…

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Schweiz öffnet ihre Bücher

Vor und während des Zweiten Weltkrieges organisierten Schweizer Galerien und Kunsthändler grosse Auktionen und Verkäufe. Dazu gehörten Gutekunst Klipstein (heute Kornfeld) in Bern, Fischer in Luzern sowie Fritz Nathan in Zürich. Unzählige Werke fanden neue Besitzer, vor allem aus den USA.

Experten gehen davon aus, dass der Schlüssel zur Klärung der Eigentumsrechte in den Archiven dieser Häuser liegt. Aufschlüsse können auch die Nachlässe der Kunsthändler Bruno Meissner und der Gebrüder Moos liefern.

Um die Identifizierung und Restituierung von Raubkunst zu erleichtern, schaltete der Bund im Juni eine Internetseite auf, um Erben, Museen und Forschern die Arbeit zu erleichtern.

«Statt eine Website zu eröffnen, sollte die Schweiz ihre Archive öffnen», fordert der US-Experte Raymond Dowd. Er hilft den Erben des österreichischen Kabarettisten Fritz Grünbaum, die heute in den USA leben, dessen von den Nazis geraubte Kunstsammlung aufzuspüren.

Grünbaum wurde 1938 von den Nazis verhaftet und starb 1943 im Konzentrationslager Dachau. Dowd blieb der Zugang zu Akten verwehrt, die Auskunft über die Auflösung der berühmten Sammlung geben könnte, die 1956 zu grossen Teilen in Bern wieder aufgetaucht war.

Obwohl vom Status her klar als enteignete Kunstwerke markiert, kaufte das Leopold Museum in Wien viele Bilder und Zeichnungen Egon Schieles, die Grünbaum gehört hatten. Auch zehn Museen aus den USA griffen ungeniert zu, ohne die Herkunft der Werke zu hinterfragen.

Dann kamen die Ansprüche der Erben. Dowd vergleicht das Verhalten der Kunsthäuser mit jenem der Schweizer Banken im Falle der nachrichtenlosen Vermögen. Diese stammten von Juden, die vor und während des Zweiten Weltkrieges ihr Geld in die Schweiz in Sicherheit gebracht hatten. Erst auf grossen Druck von jüdischen Kreisen in den USA liess die Regierung dies im so genannten Bergier-Bericht historisch aufarbeiten. 1998, also schon vor der Veröffentlichung des mehrbändigen Berichts, zahlten die Schweizer Banken den Hinterbliebenen die Summe von 1,25 Mrd. Dollar aus.

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Laut Benno Widmer, im Bundesamt für Kultur (BAK) für den Bereich Raubkunst zuständig, ist die Schweiz in all den Jahren nicht untätig geblieben. Bereits 1946/47 wurden 71 Werke ihren Besitzern zurückgegeben, und seither sei der Prozess der Identifizierung nie unterbrochen worden, so Widmer. «Jedes Werk hat seine Geschichte, und wir ermutigen Museen, diese zu erforschen.»

Von allen Werken, welche die Schweizer Museen zwischen 1933 und 1945 erworben hatten, konnte bei nur knapp einem Viertel die Herkunft geklärt  werden. Dies ergab 2010 eine BAK-Studie.

Ziel der neuen Plattform im Netz ist es, die erhältlichen Informationen zu sammeln und zusätzliche Überprüfungen der Herkunft zu ermöglichen. «Museen bestätigen uns, dass sie unsere Instrumente nutzen», sagt er weiter.

Deutsche Zollfahnder haben in der Münchner Wohnung eines 80-Jährigen rund 1400 verschollene Kunstwerke entdeckt. Der Fund, darunter Werke von Pablo Picasso, Paul Klee und Henri Matisse, datiert aus dem Jahr 2011, wie das deutsche Magazin Focus berichtete.

Demnach hatte der Vater von Cornelius Gurlitt, der Kunsthistoriker und –sammler Hildebrand Gurlitt, die Gemälde in den 1930er- und 1940er-Jahren gekauft. Die Nazis sollen die Werke jüdischen Sammlern gestohlen oder als «entartete Kunst» konfisziert haben.

Der Wert der Sammlung wurde mit über 1,2 Mrd. Franken angegeben.

Eines der beschlagnahmten Matisse-Gemälde soll dem jüdischen Kunstsammler Paul Rosenberg gehört haben. Er war der Grossvater der französischen Journalistin Anne Sinclair, die seit Jahren um die Rückgabe der von den Nazis gestohlen Gemälde kämpft.

Cornelius Gurlitt (Sohn) habe von Zeit zu Zeit Bilder verkauft und vom Erlös gelebt, hiess es weiter. Käuferin war laut dem Magazin auch die Galerie Kornfeld in Bern.

Auf die Spur des riesigen Kunstschatzes kamen die Fahnder, weil Gurlitt bei einer Kontrolle im Zug von Zürich nach München 9000 Euro in bar auf sich trug.

Bei einer Hausdurchsuchung kamen dann die Kunstwerke zum Vorschein.

Obwohl Hildebrand Gurlitt (Vater) geschäftlich eng mit den Nazis kooperierte, blieb er nach dem Krieg von der Justiz verschont, weil er mütterlicherseits jüdischer Abstammung war.

Er starb 1956 bei einem Autounfall.

Die Staatsanwaltschaft Augsburg hat den sensationellen Münchner Kunstfund inzwischen bestätigt. Kunsthistoriker gehen davon aus, dass der Hauptgrund für die Monate lange Geheimhaltung des Funds ein Gesetz von 1938 sei, das die Nazis erlassen hatten, um die Konfiskation von «entarteter» Kunst zu legalisieren. Dieses Gesetz wurde nie revidiert.

Demnach könnte Cornelius Gurlitt der rechtmässige Besitzer sein. Die Behörden haben laut eigenen Angaben keinen Kontakt mehr zum 80-Jährigen und wissen offenbar auch nicht, wo sich dieser aufhält. Die Staatsanwaltschaft untersucht, ob er die Werke illegal erworben hatte. Aber eine Anklage wurde bisher nicht erhoben.

Die Schweizer Galerie Kornfeld dementiert, dass Gurlitt im September 2010 das Berner Auktionshaus besucht habe. In ihrem Communiqué vom 4. November heisst es: «Der letzte geschäftliche und persönliche Kontakt zwischen der Galerie Kornfeld und Cornelius Gurlitt habe 1990 stattgefunden.

Blackbox der Kunst 

Die Schweizer Behörden haben den Kunsthistoriker und Journalisten Thomas Buomberger mit der ersten offiziellen Studie über die Rolle der Schweiz als Transitland für Raubkunst beauftragt.

«Der Kunstmarkt ist tatsächlich bemüht, das Thema unter dem Teppich zu halten», sagt der Spezialist. Zwar geht Buomberger nicht davon aus, dass die Schweiz etwas zu verstecken habe. Aber die Erben der damaligen Kunsthändler, die Raubkunst verkauft hatten, könnten immer noch auf Archiven von unschätzbarem Wert sitzen. Falls diese nicht zerstört seien, wie er nachschiebt.

Auch Buomberger hält die Nachforschungen, die BAK-Vertreter Widmer in Aussicht stellte, für ungenügend. «Kein Gesetz verpflichtet Museen und Händler, die ursprünglichen Besitzverhältnisse der Werke abzuklären, also tut dies auch niemand. Sie sehen keinen Grund für die hohen Kosten einer langwierigen Untersuchung.»

Die bisher verschlossenen Tresorkammern der Museen und die verlorenen Archive seien die grossen Unbekannten der Kunstwelt, fügt er an.

Sogar das Kunsthaus Zürich, eines der renommiertesten Museen der der Schweiz, weiss nicht genau, was sich in seinen unterirdischen Schatzkammern befindet. Trotz der öffentlich abgegebenen Versicherung über die Abklärung der Herkunft habe ihm kürzlich ein früherer Vizedirektor eingestanden, dass selbst er keine Ahnung davon gehabt habe, erzählt Buomberger.

Das Kunsthaus weist eine solche Darstellung zurück. Laut Björn Quellenberg schloss das Haus 2007 nach fünf Jahren ein komplettes Inventar der Bestände ab. Die Kosten bezifferte er auf 1 Mio. Franken. Forschungen habe es aber bereits in den 1980er-Jahren gegeben. Deshalb stehe die Herkunft der vom Kunsthaus zwischen 1930 und 1959 erworbenen Werke «ausser Frage», so Quellenberg.

Er hält fest, dass das Kunsthaus Zürich als private Institution sich nicht an der offiziellen Schweizer Datenbank beteilige. Auch die Auktionshäuser machten nicht mit. 

Gemäss Ori Soltes, dem Mitgründer des Holocaust Art Restitution Project, das Erben Hilfestellung bietet, fokussiert die bisherige Restitutions-Debatte auf Werke, die sehr bekannt sind.

Sobald aber Museen ihre Schränke ganz oder auch nur teilweise öffneten, werde eine zweite Kategorie von Werken zum Vorschein kommen, sagte der Spezialist in einem Telefongespräch mit swissinfo.ch. Nicht zu sprechen von den geraubten wertvollen Büchern und Bibliotheken. Für die Erben hätten sie einen emotionalen Wert, der den kommerziellen übersteige.

«Amerikanische Museen ziehen Wagen im Kreis herum, bevor eine korrekte Herkunftsabklärung kommt», meint Soltes pessimistisch.

«Kreative» Stiftungen

Der Handel mit Raubkunst ist auch in der Nachkriegs-Ära weitergegangen. Dies ist die These des US-Forschers und –Autors Jonathan Petropoulos. «Obwohl betreffend Bankkonten mehr Transparenz herrscht, sind die Bankensafes und Zollfreilager immer noch sichere Häfen für Raubgüter. Nach dem Krieg wurden viele gestohlene Kunstwerke aus Bayern und Österreich nach Lichtenstein und in die Schweiz verschoben», schrieb er in einer E-Mail.

«Die ‹kreativen› Stiftungen, die gegründet wurden, halfen zusammen mit Banken, die Raubkunst zu verstecken.» Als Beispiele nennt Petropoulos Bruno Lohse (siehe separaten Artikel) und Ante Topic Mimara.

Infolge eines exponentiellen Wertezuwachses von geraubter Kunst geht es mittlerweile um enorm viel, folgert der Spezialist.

1998 unterzeichneten 44 Länder unter Leitung der USA ein Abkommen zur Identifizierung und Restituierung von Nazi-Raubkunst. Da unverbindlich gehalten, zeigte die Erklärung aber keine Wirkung.

Trotz bekundetem guten Willen von Deutschland, Österreich, Holland, Frankreich und teils auch Grossbritannien sind es auch 15 Jahre später immer noch die Initiativen von Hinterbliebenen, die den Anstoss zu Herkunfts-Abklärungen geben.

Spanien, Italien, Ungarn, Polen und Russland sind nach wie vor nicht gewillt, Raubkunst zurück zu geben, obwohl auch sie die Erklärung unterzeichnet hatten.

Die Terezin-Erklärung von 2009, von zwei zusätzlichen Staaten unterzeichnet, stellte bei der Klärung der Besitzansprüche eher technische und moralische Aspekte in den Vordergrund. Aber auch sie brachte keinen Durchbruch.

Die fehlenden Puzzleteile

Trotz spektakulärer Restituierungen aufgelöster und versprengter Kunstsammlungen, erwähnt sei jene des Kunsthändlers Paul Rosenberg, bleibt die Erforschung der Herkunft angesichts der fehlenden Puzzleteile äusserst beschwerlich. Noch immer weisen US-Gerichte weisen neun von zehn Klagen von Erben ab.

Mehrere US-Museen haben nun vorsorgliche Massnahmen ergriffen und lassen gerichtlich bestätigen, dass sie trotz lückenhafter Nachweise rechtmässige Eigentümer bestimmter Werke sind. So verfuhr das New Yorker Guggenheim Museum für Picassos Le Moulin de la Galette und das Bostoner Museum of Fine Arts für Oskar Kokoschkas Doppelakt Liebespaar von 1913.

Ein Sprecher des Moma in New York stellte sich kürzlich auf den Standpunkt, dass Museen gegenüber der Öffentlichkeit verpflichtet seien, die Werke in deren Besitz zu behalten. Um der Washingtoner Erklärung von 1998 über die Restituierung von Raubkunst neues Leben einzuhauchen, müsste vor allem Bewegung aus den USA kommen, glaubt Thomas Buomberger. Denn dort befinde sich heute auch ein Grossteil der umstrittenen Werke.

«Wir müssen uns aber auch auf unsere moralischen Verpflichtungen besinnen», sagt er im Hinblick auf die fehlenden Puzzleteile, welche die Schweiz liefern soll.

Im Juli hatte der amerikanische Verband der Juristen und Anwälte den Kongress zum Einsetzen einer Kommission aufgefordert. Diese soll, gestützt auf die Washingtoner Erklärung, das Problem der Identifizierung und des rechtmässigen Eigentums an Kunstwerken angehen, die von den Nazis konfisziert worden waren.

Die Schweizer Regierung habe ihre Verpflichtung bestätigt, wie Benno Widmer vom BAK betont. «Die Arbeit wird so lange dauern, bis wir die Geschichte dieser Kunstwerke kennen.»

Hitler befahl zwischen 1933 und 1945 die systematische Plünderung von Kunstsammlungen. Ziel war der Aufbau seines geplanten «Führermuseums» in seiner österreichischen Heimatstadt Linz mit den Beständen der geraubten nationalen Kunstschätze der besetzten Länder.

Nach der Kapitulation Nazi-Deutschlands fand die US-Armee geraubte Kunst in Salzminen und Kellern. Die Werke wurden den Besitzern zurückgegeben. Laut genauen Verzeichnissen der Nazis fehlt aber ein grosser Teil immer noch.

Hitler liess die Werke aber auch rauben, weil er als verhinderter Künstler die Aufnahme an die Wiener Kunstakademie nichtgeschafft hatte, im Gegensatz zu Egon Schiele und Oskar Kokoschka. Daraus entwickelte Hitler einen Hass auf die damaligen Gegenwartskünstler, deren Werk er als «entartete Kunst» diffamierte. Dasselbe galt auch für Musiker und Schriftsteller.

Die Kunstsammlungen vermögender Juden, die mit Hilfe von renommierten Händlern wie Alfred Flechtheim oder Paul Rosenberg zusammengetragen wurden, bestanden zu grossen Teilen aus modernen Werken. Sie waren die ersten Sammlungen, die geplündert wurden.

Die Erlöse aus den erzwungenen Verkäufen wurden vom Dritten Reich grösstenteils für den Kauf von Waffen verwendet.

(Übertragung aus dem Englischen: Renat Kuenzi)

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