Seifenverkäufer, Blindendelegierter, Filmpionier
PR-Events? Content-Marketing? Product Placement? Der Reklamepionier François-Henri Lavanchy-Clarke hat alles schon gemacht, bevor sich die Schweizer Werbewelt nach 1900 etablierte – und brachte damit das Kino in die Schweiz.
Die ersten Filme der Geschichte gleichen heutigen Handyfilmen: Sie sind sehr kurz, halten Alltägliches fest. Einer der ersten Filme der Schweiz zeigt 1896 einen Alpaufzug.
Urchige Bergler, Ziegen und Kühe steuern auf die Kamera zu, es wird Alphorn gespielt. In der Menge fällt ein Mann in eleganter Kleidung auf, der eine Kuh auf den Hintern schlägt und Passanten Anweisungen zu geben scheint.
Jener Herr mit Zylinderhut ist François-Henri Lavanchy-Clarke, der Produzent des Films: Der Tross aus Menschen und Tieren ist inszeniert, die Holzhäuser im Hintergrund sind Teil des «Village Suisse», einer Attraktion der Landesausstellung 1896.
Ursprünglich wollte Lavanchy-Clarke im künstlichen Berg dieses Dörfleins Filme zeigen. Doch er wurde in den Vergnügungspark verbannt. Denn Lavanchy-Clarke verdiente sein Geld mit Verkaufsautomaten, verkaufte Produkte aus Blindenwerkstätten und machte Reklame für die englische Sunlight-Seife. Das Kulissendorf sollte authentisch national wirken – hier hatten nur Schweizer Produkte Platz.
In seinem «Palais des Fées», der vorne einer Pagode, hinten einem arabischen Kaffeehaus nachempfunden war, zeigte Lavanchy-Clarke Filme – nur wenige Monate, nachdem die Brüder Lumière der Weltöffentlichkeit erstmals ihren Kinematographen präsentiert hatten. Neben dem Spiegelkabinett und den Landschafts-Panoramen schälte sich auch hier in Genf das Kino langsam aus den anderen Seh-Sensationen hervor.
Aber selbst der begeisterte Filmer erster Stunde vertraute nicht ganz auf die bewegten Bilder: In seinem Palais waren optische Täuschungen und Uhrmacher-Roboter zu bewundern, die wie Menschen aussehen sollten. Zudem organisierte er einen Schönheitswettbewerb und einen Hungerkünstler.
Seine Filme zeigten Alltagssituationen und waren wenige Minuten lang. Zu sehen waren der Film eines einfahrenden Zugs und andere Kleinstfilme der Brüder Lumière – und selbst gemachte Produktionen, unter anderem Aufnahmen der Landesausstellung.
Kommentiert hatte sie Lavanchy-Clarke selbst. Ein Journalist schrieb: «Er spricht viel zu viel, der gute Mann» – er hatte ja auch einiges zu erzählen.
Vom Missionar zum Seifenverkäufer
François-Henri Lavanchy wurde 1848 in Morges am Genfersee geboren. Nach einem Jura-Studium in Paris half er als Sanitäter des Roten Kreuzes im Deutsch-Französischen-Krieg. 1871 brachte er – Sohn einer religiösen Familie – in Südfrankreich Bibeln unter die Leute, später reiste er als Missionar nach Ägypten.
Hier begann sein Engagement für jene, die nicht sehen konnten. 1878 organisierte er in Paris einen Blinden-Kongress, an dem sich die Brailleschrift gegen andere Entwürfe durchsetzte.
Dort lernte er auch seine künftige Frau kennen: Jenny Elisabeth Clarke aus England, die als Delegierte in Paris war. Sie heirateten, und Lavanchy hängte ihren Nachnamen «Clarke» an seinen – sehr unüblich für jene Zeit, aber mondän.
Er stellte ein Netzwerk von Werkstätten auf die Beine, in denen Blinde tätig waren. Diese Hilfe zur Selbsthilfe finanzierte sich einerseits durch den Verkauf der produzierten Waren, andererseits durch ein Netz von Sponsoren. So spendete die französische Schauspielerin Sarah Bernhard regelmässig, etliche Industrielle und Philanthropen taten es ihr gleich
Ende der der 1880er-Jahre wandte sich Lavanchy-Clarke auf der Suche nach Dingen, die man in Verkaufsautomaten verkaufen konnte, an William Hesketh Lever, einen seiner Spender. Lever war der grösste Seifenproduzent Englands.
Die grosse Neuerung seiner «Sunlight Soap» war die Verpackung: Während Seife ursprünglich von grossen Blöcken abgeschnitten wurde, kaufte man «Sunlight» in kleinen Portionen, attraktiv verpackt.
So wurde Lavanchy-Clarke der erste Konzessionär der Lever Bros. auf dem Festland – und bewarb die Marke «Sunlight» kräftig. 1889 organisierte er zu Werbezwecken einen Wettbewerb am Genfersee – 700 Wäscherinnen sollten hier um die Wette waschen, mit «Sunlight»-Seife natürlich.
Er animierte die Presse dazu, über das Ereignis zu schreiben. Denn einen Preis konnte nicht nur die beste Wäscherin gewinnen – sondern auch der Journalist, der die originellste Reportage darüber schrieb.
Und: Das Schloss Chillon sollte für die nächsten Jahre als Hintergrund auf dem Titelblatt des regelmässig verschickten „Sunlight Almanach“ dienen – heute würde man von einem Content-Marketing-Magazin sprechen. Lavanchy-Clarke war einer der ersten Spin-Doctors der Welt.
Filmapparate im Rennen
In den 1890ern standen etliche Versuche, bewegte Bilder festzuhalten, in Konkurrenz zueinander. Lavanchy-Clarke, der sich seit Jahren für Fotografie interessiert hatte, war hier nicht nur interessierter Beobachter, sondern beteiligte sich auch finanziell an den Experimenten von Georges Demenÿ. Dieser hatte ein Gerät entwickelt, das wenige Sekunden Film projizieren konnte, abgespielt auf einem Rondell.
Lavanchy-Clarke wohnte bei dem vergessenen Filmpionier in Paris um die Ecke und gründete mit ihm eine «Societé generale du phonoscope». Auf einer der ersten Aufnahmen von Demenÿs Gerät sieht man Lavanchy-Clarke – wie er sich mit einer Bürste aus einem seiner Blindenwerke die Schuhe putzt – etwas Product Placement musste auch hier sein.
Seine ersten Filme drehte Lavanchy-Clarke dann aber mit dem Kinematographen der Brüder Lumière, der längere Filme zuliess – diese zeigte er an der Landesausstellung. Seinen Image-Film für «Sunlight»-Seife, in dem seine Frau und seine Schwägerin beim Waschen zu sehen sind, sahen in Genf 70’000 Personen.
Nach 1896 hatten es ihm vor allem Monarch:innen angetan: In London filmte er das Diamant-Jubiläum von Queen Victoria, in Bern begleitete er mit seiner Kamera König Rama V von Siam.
Aber auch profanere menschliche Ereignisse verfolgte er mit der Linse: die Basler Fasnacht, die Eröffnung des Schweizer Landesmuseums, und er filmte etliche touristische Destinationen in der Schweiz.
Er tourte mit seinen Filmen durch die Schweiz. Wer einen «Sunlight»-Almanach vorzeigen konnte, zahlte nur die Hälfte, Schulkinder, die eine «Sunlight»-Garantiemarke vorzeigen konnten, nichts – l’art pour l’art war nichts für den Rastlosen. In seinen Filmen versteckte er auch regelmässig das Signet der «Sunlight»-Seife.
1898 wurde er Generaldirektor der ersten Filiale von «Sunlight-Soap» auf dem Kontinent, der Seifenfabrik Helvetia in Olten. Er hatte zwar eine Unsumme von Marketingideen – so wollte er etwa einen Zoo-Elefanten Seifenmüsterchen verteilen lassen –, zeigte aber zu wenig Engagement in banaleren geschäftlichen Dingen.
1900 wurde er vom Verwaltungsrat seiner Aufgabe enthoben, er zerstritt sich für Jahre mit seinem Mitkämpfer Lever. Im gleichen Jahr starb sein ältester Sohn an Tuberkulose.
Doch die Zeichen standen nicht auf Rückzug. Lavanchy-Clarke tüftelte an der Farbfotografie herum, gründete ein weiteres Schokoladenunternehmen – Chocobanana – mit etwas mehr Erfolg. In Marseille übernahm er 1913 die Verantwortung bei einer weiteren Seifenfabrik, «La Giraffe».
1922 starb er in seiner Villa in Cannes an den Folgen einer Verletzung, die er sich bei einem Sturz nach der Feier des Kriegsendes 1918 zugezogen hatte. In den Nachrufen beschrieb man ihn primär als Reklamemann für Seife, seine cineastischen Beiträge interessierten nicht – die Technikgeschichte vergisst schnell.
Auch nationale Ehre widerfuhr ihm nicht, im Gegenteil: In seinen letzten Jahren hatte man über ihn noch eine Fiche angelegt, weil er auch im Ersten Weltkrieg in Frankreich für das Rote Kreuz tätig gewesen war: Der Schweizer Film- und Reklamepionier starb aktenkundig als «Schweizer in fremden Heeren» und wurde vergessen.
Bis zum 29. Januar 2023 zeigt das Tinguely-Museum Basel die Ausstellung Kino vor dem Kino.
Lavanchy-Clarke ist auch der neue Film «Lichtspieler» von Praesens-Film gewidmet, der in Kinos und online läuft.
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