Schweizer Filmemacher macht Flüchtlingslager zu einem Babel der Absichten
Lionel Baier, Regisseur aus Lausanne, hinterfragt mit seiner neuen Satire, "Kontinentaldrift (im Süden)", die Kulissenschieberei der Politik. SWI hat mit ihm in Cannes am Strand darüber gesprochen, wie unsere Erwartungen an das Elend aussehen und welche Kraft in sprachlichen Akzenten liegt.
Der Lausanner Regisseur Lionel Baier feierte in Cannes die Weltpremiere seines neuen Spielfilms «La dérive des continents (au sud)». Die Gesellschaftssatire hält uns einen unbequemen Spiegel vor: Die Bundeskanzlerin und der französische Präsident sollen auf Sizilien ein Flüchtlingslager besuchen. Dafür muss das Lager aber entsprechend vorbereitet werden, denn so wie es jetzt ist, ist es zu wenig eindrücklich – es braucht mehr Dreck, mehr Elend.
Das dichte und intelligente Drehbuch wird durch ein vielseitiges und souveränes Schauspielerensemble getragen. Dazu gehört auch die Bündnerin Ursina Lardi, die die Rolle der resoluten PR-Frau der deutschen Bundeskanzlerin übernimmt. Trotz der Ernsthaftigkeit des Stoffes verliert der Film nie seine Leichtigkeit, immer wieder findet er auch zu poetischen, fast märchenhaften Bildern.
SWI swissinfo.ch hat Lionel Baier in Cannes am Strand getroffen und sich mit ihm über die Entstehung seines Films sowie die Rolle eines Schweizers in Europa unterhalten.
swissinfo.ch: Wo haben Sie gedreht? Woran haben Sie sich bei der Darstellung des Flüchtlingscamps orientiert?
Lionel Baier: Viele Lager sind in Italien in alten Militärstationen, in faschistischer Architektur oder in ehemaligen Feriendörfern untergebracht. Wir haben in einer verlassenen amerikanischen Militärbasis gedreht, die wir ein wenig umgewandelt haben.
Diese Lager unterscheiden sich entscheidend von denen in Griechenland zum Beispiel. Sie sind organisierter und in einem viel besseren Zustand, es gibt da keine einfachen Barracken und Zelte.
Unser Lager im Film sollte nicht so aussehen. Auch auf die Gefahr hin, dass man die Erwartungen enttäuscht. Mir ist das selbst etwas passiert! Wir wollen nämlich gerne ein Bild des Elends sehen, das hat etwas Beruhigendes. Wir sind an ein Bild des Elends gewöhnt. Und das bestätigt uns in unseren Sicherheiten und Meinungen.
In Italien kann es vorkommen, dass man unerwartet an eine Baustelle herantritt, dass der öffentliche Raum nicht ganz so sauber ist oder dass man eben auch einige dieser beleidigenden, rassistischen aufgesprayten Parolen an den Wänden findet. Wie viel davon mussten Sie wirklich inszenieren?
Wir haben die Sprüche dort platziert, wo wir sie haben wollten. Aber sie existieren, das ist sicher. Ich sehe sie auch in Frankreich, in der Schweiz, überall.
Ich denke dabei immer, was für eine Aggression sie für jemanden, der aus einem anderen Land kommt, egal aus welchen Gründen, darstellen. Wie brutal sie für jemanden sein müssen, der bei uns den Müll einsammelt und eine Arbeit macht, die die Menschen vor Ort nicht machen wollen und dann wird er oder sie auch noch beschimpft.
Das ist ein unglaublicher Akt der Gewalt. Jedes Mal, wenn ich das sehe, denke ich an diese Menschen und es ist unwürdig, eine Würdelosigkeit, die für mich unerträglich ist.
Woher kommt die Idee mit dem Meteoriten, mit dem der Protagonist im Film konfrontiert wird?
Es gibt diesen Ausdruck auf Französisch: «Die Sterne, der Himmel, fällt mir auf den Kopf», um zu sagen, dass die Welt zusammenbricht.
Wenn ich die europäische Flagge betrachte, die ich liebe, an die ich glaube, denke ich, dass die zwölf Sterne ein Symbol für Vollkommenheit sind. Auch wenn ich stolz auf die Europäische Union bin, perfekt ist sie schon lange nicht mehr, war sie nie.
Das bedeutet nicht, dass man aufgeben sollte. Aber man muss sich bewusst machen, dass diese Sterne drohen, abzufallen, und dieser Himmel könnte uns auf den Kopf fallen. Wir verlieren Sterne auf dem Weg, wir haben mit Grossbritannien einen Stern verloren. Zeichen muss man ernst nehmen.
In ihrem Film fällt auf, dass Sie eine Vielzahl von Sprachen und Kulturen mischen, das Ensemble kommt aus Quebec, dem Senegal, der Schweiz –weshalb diese Polyphonie der Akzente?
In französischsprachigen Filmen in Frankreich sieht man immer die gleichen Schauspieler. Mir gefällt es, Schauspieler und Schauspielerinnen zu wählen, die nicht französischsprachig sind und aus anderen Kulturen stammen. Selbst der Schauspieler, der in dem Film den Franzosen spielt, ist aus Québec. Oftmals sprechen wir eine Sprache, die nicht unsere eigene ist. Oder wir mischen mehrere gleichzeitig.
Ich liebe es, wenn Menschen Französisch mit einem Akzent sprechen. Selbst wenn man Fehler macht, ist es ein Zeichen der besonderen Aufmerksamkeit und Höflichkeit gegenüber einer anderen Kultur. Man hat sich die Zeit genommen, die Sprache eines anderen zu lernen. Durch die verschiedenen Sprachen erzählt der Film etwas Wesentliches über Europa. Im Film hat jede Figur durch ihre Herkunft eine andere Realität. Die Italiener, die Franzosen, die Deutschen und die Schweizer haben alle eine andere Beziehung zu den Migranten, und das wollte ich aufzeigen.
Ich bin sehr stolz darauf, Europäer zu sein, weil es eine Mischung aus vielen verschiedenen Dingen ist. Genauso freue ich mich, Schweizer zu sein, weil es keine Schweizer Kultur gibt, sondern viele.
Oft finde ich es lustig, dass man mich als Schweizer Filmemacher vorstellt. Das stimmt zwar, aber es bedeutet auch nichts. Denn wenn ich meine Kollegen in der Deutschschweiz treffe, sehe ich, dass wir nicht viel gemeinsam haben. Und ich bin sehr glücklich darüber. Ich finde es sehr bereichernd. Weil ich mir sage, dass wir zwar zur selben Filmfamilie gehören, aber wir uns nicht auswendig kennen und so uns gegenseitig langweilen.
Sie zeigen, wie wichtig Sprache für die Identitätsbildung ist. Eine Figur im Film, ein senegalesischer Einwanderer, spricht ein hervorragendes Französisch. Davon fühlt sich der Franzose, der sich über seine Sprache definiert, bedroht.
Oft ist die Beziehung, die wir Französischsprachige zur Sprache haben, unglaublich autoritär. Wir korrigieren die Leute oft, wenn sie sprechen, während beispielsweise Englischsprachige das kaum tun, obwohl wir mit unserem schrecklichen französischen Akzent sprechen. Wir hingegen sind sehr pedantisch. Und ausserdem sprechen wir oft sehr schlecht Französisch.
Das fällt im Vergleich zu den Quebecern oder den Menschen aus Afrika besonders auf, da diese oft ein sehr gutes Französisch sprechen. Oft schauen sie uns fragend an, weil wir Fehler machen. Das amüsiert mich. Adama Diop ist ein senegalesischer Theaterschauspieler und spricht ein perfektes Französisch. Es ist wegen der Präzision der Wörter, die er benutzt, und der Schönheit der Sprache ziemlich einschüchternd.
Die Hauptfigur im Film ist Französin, die seit Jahren in Italien lebt. In einer Szene gibt sie einer chinesischen Reisegruppe spontan eine Stadtführung. Sie spricht mit einer mitreissenden Leidenschaft von einem Land, in dem sie als Fremde gilt. Eine ähnliche Perspektive des Aussenstehenden nehmen Sie gewissermassen auch mit Ihrem Film ein.
Ich bewundere Menschen, die in einem anderen Land leben und sich bemühen, alles darüber zu lernen. Als Schweizer sehe ich oft fasziniert dabei zu, wie unsere Landsleute, die Schweizer werden wollen und Ausländer sind, beurteilt werden.
Man fragt sich, ob sie das richtige Niveau haben, in einer Prüfung müssen sie beweisen, dass sie die Schweiz kennen. Dabei wären wir, Geburtsschweizer, nicht in der Lage, die Fragen zu beantworten.
Sehr oft kennen die Menschen, die sich um die Zugehörigkeit zu einem Land bewerben, dieses besser als die Einheimischen. Sie kennen es besser, weil sie es wirklich wollen. Mein Pass wurde mir von meiner Familie gegeben, also habe ich keinen Verdienst daran. Die Leute, die ihn beantragen, strengen sich sehr an. Ausgerechnet als Schweizer über Europa und die Europäische Union zu sprechen, kommt dem ähnlich.
«La dérive des continents (au sud)» ist der dritte Film einer vierteiligen Serie…
Der vierte Film wird in Schottland spielen und sich mit dem Thema auseinandersetzen, ob Schottland aus der Europäischen Union austreten soll oder nicht.
Die vier Filme werden insgesamt zwanzig Jahre der Geschichte Europas umspannen. 2005/2006 war eine Zeit der grossen Hoffnung, als Polen der EU beitrat, 2012 kam die Krise, als Europa zu explodieren drohte, 2022 nun die Migrationskrise und 2026 muss ein Staat vielleicht in einen anderen verlassen, um unabhängig zu werden – oder nicht. Wir werden sehen.
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