Schweizer Jungregisseure sollen radikaler werden
Während 20 Jahren war er der starke Mann der Solothurner Filmtage. Jetzt kehrt er zum Festival zurück als "Mister Film", als Leiter einer Sparte in Unruhe. Ivo Kummer bleibt aber ruhig und spricht über die kommenden Herausforderungen für den Schweizer Film.
«Um zu wachsen, braucht der Schweizer Film Geld, aber auch viel Leidenschaft und Mut.» Das sagt Ivo Kummer, der die siebte Kunst zu seiner Liebe gemacht hat.
Der frühere Direktor der Solothurner Filmtage hat im August 2011 das Amt des «Mister Film» von seinem Vorgänger Nicolas Bideau übernommen.
swissinfo.ch hat sich mit dem Leiter der Sektion Film im Bundesamt für Kultur (BAK) vor Beginn der Solothurner Filmtage unterhalten.
swissinfo.ch: Wie sehen Sie den Schweizer Film?
Ivo Kummer: Ich war immer fasziniert von den Schweizer Filmen: Sie bewegen mich als Person und als Kinoliebhaber.
In der Schweiz ist der führende Sektor jener der Dokumentarfilme. Das ist seit mehreren Jahren eine Konstante. Es handelt sich dabei nicht nur um Reportagen, sondern um Dokumentarfilme, die oft auch in den grossen Kinos gezeigt und von engagierten Regisseuren gemacht werden.
Im Vergleich zu anderen europäischen Ländern haben die Dokumentarfilme ein besonders grosses Ansehen und werden anders gewertet.
In Sachen Produktion von Spielfilmen bin ich indessen ein wenig besorgt. Oft wird für die Realisierung eines Spielfilms ein höheres Budget benötigt, und die Gelder dafür sind nicht leicht zu finden.
Ein schwer zu lösendes Problem, das in einem gewissen Sinn in der Struktur der Filmförderung des Bundes angelegt ist. Es sind nicht genügend Gelder zur Garantierung einer Kontinuität in diesem Sektor vorhanden.
Kontinuität ist unentbehrlich für die Realisierung eines Films und das Schreiben eines Drehbuches. Heute benötigt ein Regisseur zwei oder drei Jahre zur Realisierung eines Films – eine zu lange Zeit.
swissinfo.ch: Das Budget von 46 Millionen Franken des Bundes zugunsten des Films genügt also nicht?
I.K.: Das ist eine Tatsache: Es gibt zu wenig Geld für den Film. Umso mehr, wenn man berücksichtigt, dass diese Gelder aufgeteilt werden zwischen Filmförderung, Filmkultur, Teilnahme am Media-Programm der Europäischen Union (EU), Ausbildung und Filmarchiv.
Zu entscheiden steht aber nicht mir, sondern dem Parlament zu. Die leichte Erhöhung des Budgets, die wir dieses Jahr erhalten haben, ist ein gutes Zeichen. Es bedeutet, dass die Politik sich des kulturellen Wertes des Films in unserem Land bewusst wird, als Instrument zur Verstärkung des Kulturverständnisses und der Identität. Aber man könnte mehr tun.
swissinfo.ch: Trotz der Erfolge einiger Filme in den letzten Jahren wie «Vol Spécial», «Sennentuntschi» oder «Cleveland vs. Wall Street» tun sich Schweizer Produktionen sehr schwer, die Landesgrenzen zu überschreiten. Warum?
I.K.: Mit Ausnahme von Genrefilmen wie Sennentuntschi, die schwierig zu exportieren sind, werden Schweizer Produktionen oft an den wichtigsten internationalen Filmfestivals selektioniert, das ist ein nicht zu unterschätzender Aspekt.
Ich denke da zum Beispiel an Summer Games von Rolando Colla, der am Filmfestival von Venedig gut aufgenommen wurde, oder an den neuen Spielfilm von Ursula Meyer, L’enfant d’en haut, der im Rennen um den Goldenen Bären am 62. Berliner Filmfestival ist.
Gewiss, es ist für Schweizer Filme nicht leicht, in ausländischen Kinosälen zu landen. Die Konkurrenz ist enorm, vor allem jene Hollywoods, und für die Schweizer Filme reichen Mundpropaganda oder Werbung nicht immer aus.
Das schliesst aber nicht aus, dass es Nischenfilmen gelingt, sich zu profilieren. Der Film Die Herbstzeitlosen von Bettina Oberli erzählt zwar eine typisch schweizerische Geschichte, doch der Film hatte in Deutschland überraschend grossen Erfolg.
swissinfo.ch: Es gibt aber mit der Schweiz vergleichbare Länder wie Belgien oder Dänemark, denen es in den letzten Jahren gelungen ist, sich in der internationalen Filmszene bekannt zu machen.
I.K.: Dänemark hat in den letzten Jahren grosse Marketingarbeit geleistet und viele Filme der Marke Dogma 95 (zu der auch Lars von Trier gehört, Anm.d.Red.) publiziert. So gelang es dem Land auch, Filme von Regisseuren zu exportieren, die einem grossen Publikum wenig oder gar nicht bekannt sind.
In der Schweiz können wir heute nicht mehr auf eine Generation von bekannten Regisseuren zählen, wie das zu Zeiten von Alain Tanner oder Claude Goretta war. Vielleicht sind da noch Fredi Murer und einige Junge, die im Ausland arbeiten, wie Markus Imboden.
Ich frage mich, ob die Periode der Autorenfilme nicht zu Ende ist oder einfach nur andere Formen angenommen hat. Damals ging man ins Kino, um den neuen Tanner oder den neuen Godard zu sehen, heute reizen das Publikum mehr die Handlung eines Films oder dessen Schauspielerinnen und Schauspieler.
swissinfo.ch: In den letzten Jahren haben Sie mehrmals die Wichtigkeit eines radikaleren, preiswerteren und weniger glamourösen Films betont. Welches sind die Prioritäten von «Mister Film»?
I.K.: Das Herz meiner Arbeit ist die Filmproduktion und die Ermutigung zu zu Filmen, die auf Qualität und Originalität setzen. Aber nicht ich mache die Filme, und es steht dem Staat sicher nicht zu, den Regisseuren eine Linie vorzuschreiben.
Klar habe auch ich als Filmliebhaber meine Präferenzen. Mir gefallen die radikaleren, weniger konformistischen Filme, die den Mut haben, etwas zu wagen. Filme, die eher in der Stadt spielen, mit Leuten. Denn in der Schweiz gibt es nicht nur Berge und Kühe.
Aber nochmals: Es ist der Regisseur, der einen Film realisiert, und unsere Aufgabe ist es, die Kreativität und die Qualitätsarbeit zu unterstützen. Der Faktor Erfolg ist relativ. Gewiss, es freut mich, wenn ein Film ein grosses Publikum erreicht, aber es ist wichtig, auch Nischenfilme aufzuwerten, wie etwa Experimentalfilme.
swissinfo.ch: Trotz finanzieller Unterstützung durch den Bund ist die Realisierung eines Films nicht einfach. Was raten Sie jungen Regisseuren?
I.K.: Sie sollen radikaler und mutiger werden. Sie sollen nicht zu lange darauf warten, einen Spielfilm zu realisieren. Es spielt keine Rolle, dass man nicht eine Million Franken zur Verfügung hat, man kann einen guten Film mit weniger Geld machen.
Aber man muss daran glauben, es braucht Herzblut, wie man sagt. Kurz: Werft euch hinein und glaubt daran bis zum Ende.
Die 47. Ausgabe der Solothurner Filmtage dauert vom 19. bis 26. Januar 2012.
Unter den acht für den «Prix de Soleure» nominierten Filmen finden sich Summer Games des Italo-Schweizer Regisseurs Rolando Colla, der kontroverse Dokumentarfilm Vol Spécial von Fernand Melgar und Der Verdingbub von Markus Imboden.
Das Spezialprogramm «Rencontre» ist der Schweizer Schauspielerin Marthe Keller gewidmet, weltbekannt durch ihre Rollen in
Marathon Man
(John Schlesinger),
Fedora
(Billy Wilder),
Bobby Deerfiled
(Sydney Pollack),
Per le antiche scale
(Mauro Bolognini) und
Schwarze Augen
(Nikita Mikhalkov).
Geboren 1959 in Solothurn. Studium der Germanistik und Journalistik an der Universität Freiburg, Diplom in der Fachrichtung Film und Fernsehen.
Nachdem er als freier Journalist gearbeitet hatte, wird er 1986 Pressesprecher der Solothurner Filmtage.
1987 Gründungsmitglied der Insertfilm AG, die er bis heute präsidiert und in der er als Produzent tätig ist.
Seit 1984 Mitglied der Geschäftsleitung und von 1989 bis 2011 Direktor der Solothurner Filmtage.
Am 1. August 2011 folgt er auf den abtretenden Nicolas Bideau an die Spitze der Sektion Film im Bundesamt für Kultur.
Lieblingsfilm von Ivo Kummer: Dokumentarfilm Reisender Krieger von Christian Schocher, 1981.
Unvergesslicher Moment: Die Vorführung des Films Les petites fugues von Yces Yersin, 1979.
«Die Solothurner Filmtage sind eine Möglichkeit, um über das Kino zu diskutieren, sich anderen Visionen auszusetzen, zu entdecken, was in den letzten zwölf Monaten in unserem Land produziert wurde.»
«Es ist ein Termin für Filmliebhaber und Filmschaffende, der nicht verpasst werden darf. Ich hoffe, dass dieses Festival auch in Zukunft der Heimatort des Schweizer Films bleibt.»
(Ivo Kummer)
(Übertragung aus dem Italienischen: Jean-Michel Berthoud)
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