«Platzspitzbaby», vom Lebenshunger der Tochter einer Drogenkranken
Zum ersten Mal befasst sich ein Spielfilm mit den offenen Drogenszenen der 1990er-Jahre in der Schweiz. "Platzspitzbaby", von einer wahren Geschichte inspiriert, erzählt von der Liebe eines jungen Mädchens zu seiner drogenabhängigen Mutter. Und vom Kampf, bei ihr zu bleiben.
«PlatzspitzbabyExterner Link» ist ein Spielfilm unter der Regie von Pierre Monnard mit Luna Mwezi und Sarah Spale in den Hauptrollen. Er kam Mitte Januar in der Deutschschweiz in die Kinos und landete sogleich an der Spitze der Kino-ChartsExterner Link. Der Film steht auf dem Programm der Solothurner Filmtage, die noch bis zum 29. Januar dauern. Danach wird er auch in der übrigen Schweiz gezeigt.
Mia hat ihre Kopfhörer auf und versucht, sich auf die Musik zu konzentrieren, um sich etwas abzuschirmen vom Elend, das sie umgibt: Menschen, die schreien, taumeln, auf dem Boden kriechen und sich Heroin in ihre Venen spritzen. Mia sucht im Chaos am Platzspitz, einem Platz im Zentrum Zürichs mit Tausenden von Drogenabhängigen, verzweifelt nach ihrer Mutter.
Die erste Sequenz des Films «Platzspitzbaby» führt uns direkt zurück in die Brutalität der offenen Drogenszenen der 1990er-Jahre. «Es war mir wichtig, dies sofort in Szene zu setzen, damit die Menschen, die diese Zeit nicht miterlebt haben, sehen können, was vor sich geht», erklärt der Regisseur Pierre Monnard.
Die Zuschauerinnen und Zuschauer bleiben aber nur wenige Minuten mit Mia in dieser Hölle, denn der Film konzentriert sich auf das, was später geschah. Was wurde aus dem kleinen Mädchen, als die Zürcher Behörden beschlossen, die offenen Szenen zu schliessen und die Drogenabhängigen in ihre Heimatgemeinden zurückzuschicken?
Mia hofft auf einen Neuanfang, aber sie merkt bald, dass ihre Mutter nicht in der Lage ist, die Drogen aufzugeben. Im Alter von 11 Jahren findet sich Mia allein mit einer süchtigen Erwachsenen zu Hause, mit der Hausarbeit, der Müdigkeit und Mitschülern, die sie als Junkie-Mädchen bezeichnen.
«Es ist nicht möglich, die Geschichte der 3000 Drogenabhängigen am Platzspitz zu erzählen. Deshalb konzentrieren wir uns auf eine Person, auf ein Kind. Das ist die Stärke dieses Films», sagt Monnard.
Eine wahre Geschichte
Der Spielfilm ist von der Kindheit Michelle Halbheers inspiriert, die 2013 eine Autobiografie mit dem Titel «Platzspitzbaby»Externer Link veröffentlichte. Monnard las das Buch gleich als es herauskam. Er dachte sofort, dass dies Material für einen Film sein könnte.
Der Regisseur war in den 1990er-Jahren ein Teenager und wurde von den offenen Drogenszenen in Zürich und Bern geprägt, obwohl er in Châtel-St-Denis im Kanton Freiburg aufwuchs. «Ich hatte einen Freund, der regelmässig zum Platzspitz ging. Eines Tages kam er nicht mehr zurück», erzählt er.
Monnard und der Drehbuchautor des Films, André Küttel, wandten sich schliesslich an Michelle Halbheer. Enthusiastisch erzählte sie ihnen ihre Geschichte noch einmal, mit mehr Details und Anekdoten über andere Kinder, die sich in der gleichen Situation befanden. «Diese Geschichten haben unsere Schreibarbeit genährt, es war wirklich eine Inspiration», sagt Monnard.
Die Anpassung einer autobiografischen Geschichte für einen Film ist jedoch nicht einfach. Halbheer hatte sich in Fantasiewelten geflüchtet, um ihren Alltag erträglicher zu machen, eine Mischung aus Traum und Realität, die in Bildern nur schwer darzustellen ist.
Die Filmer entschieden sich schliesslich, einen imaginären Freund zu schaffen, der Mia durch schwierige Zeiten begleitet, indem er Gitarre spielt und Lieder singt. Die Momente, in denen diese Figur auftaucht, sind gut ausbalanciert und geben dem Film eine originelle, erfrischende Note.
Hervorragende Schauspielerinnen
Für den Film arbeitete Monnard auch mit verschiedenen Drogenabhängigen oder Platzspitz-Überlebenden zusammen. Sie erscheinen vor allem in der ersten Szene, unter den 250 Statisten und Statistinnen, die für die Zeit der Dreharbeiten die dunkelsten Stunden dieses Zürcher Parks zum Leben erweckten.
Zu diesem Zeitpunkt wurde auch Luna Mwezi, die Schauspielerin, die Mia spielt, mit dieser Realität konfrontiert. Sie wandte sich an Monnard und sagte ihm: «Mir ist klar geworden, dass wir sie wirklich finden müssen. Sie kann nicht hier bleiben, ich habe zu viel Angst um sie.»
Die junge Schauspielerin ist schlicht umwerfend. Es gelingt ihr dermassen gut, Mia darzustellen. «Sie hat eine beeindruckende Fähigkeit, loszulassen und einen direkten Draht zu ihren Emotionen», erklärt Monnard mit Bewunderung.
Zwischen Mwezi und Sarah Spale, welche die Rolle von Mias Mutter spielt, stimmte die Chemie, es entstand ein Vertrauensverhältnis. Das spüren die Zuschauer: Die Beziehung zwischen den zwei Protagonistinnen wirkt trotz aller Komplexität immer authentisch.
In der Schweiz leben etwa 100’000 Kinder mit einem Elternteil, der von Alkohol oder einer anderen Substanz abhängig ist. Diese Kinder haben ein viel grösseres Risiko, auch eine Sucht zu entwickeln, oder unter psychischen Problemen zu leiden. Oft wagen sie es nicht, über ihre Schwierigkeiten zu sprechen. Die Stiftung Sucht SchweizExterner Link organisiert einmal pro Jahr eine Aktionswoche, um diesen Kindern eine Stimme zu geben und Öffentlichkeit sowie Fachleute zu sensibilisieren.
Auch Spales Leistung ist bemerkenswert. Es gelingt ihr, die drogenabhängige Mutter perfekt zu verkörpern. «Sie hat die Figur sehr gründlich recherchiert, fing an zu rauchen, trug ihre falschen Zähne, nahm auf der Strasse bestimmte Körperhaltungen ein oder schrie auch mal Passanten an», erzählt Monnard. «Sie tauchte wirklich ein in die Rolle, mit einer verblüffenden Authentizität. Sogar ich erkannte sie manchmal kaum mehr.»
Spale gelingt es, diese Figur trotz all ihrer Unzulänglichkeiten liebenswert zu machen. «Sie hat diese Mutter nie verurteilt, sie hat sich einfach in ihre Lage versetzt und hat angefangen, wie sie zu denken», erklärt der Regisseur. «Doch die Rolle ist nicht einfach, und Sarah war sehr engagiert und vertraute mir auch an, dass sie als ihre Filmfigur träumte. Sie träumte sogar, dass sie ihre Zähne verlor!»
Die Leistung der beiden Schauspielerinnen, das Drehbuch und die Musik machen «Platzspitzbaby» zu einem wirklich aussergewöhnlichen Film. Die Emotionen sind roh, am Ende fühlt man sich erschüttert, aber da ist auch ein kleiner Hoffnungsschimmer.
Indem man die Geschichte durch die Augen eines jungen Mädchens erlebt, landet man nie im Dreck, in der Hölle, verfällt nicht in eine Depression. Mia versucht unermüdlich, das Beste aus dem zu machen, was ihr passiert und Lösungen zu finden.
«Wir wollten den Kindern, die solche Situationen durchmachen, eine Stimme geben», erklärt Monnard. «Auch in der Schweiz bleiben diese Probleme aktuell.»
Das Trauma der offenen Drogenszenen
Die Verbreitung von Betäubungsmitteln wie Heroin und Kokain führte Mitte der 1980er-Jahre zur Entstehung mehrerer offener Drogenszenen in öffentlichen Parks der Schweiz. Besonders betroffen waren die Städte Zürich und Bern. Auf dem Platzspitz, direkt neben dem Bahnhof Zürich, hielten sich täglich mehr als 3000 Drogenabhängige auf; er galt als die grösste offene Drogenszene Europas.
Die Behörden räumten den Platzspitz 1992, aber die Süchtigen und Drogenhändler zogen weiter zum stillgelegten Bahnhof Letten, der schliesslich 1995 evakuiertExterner Link wurde. Die Drogenabhängigen wurden in ihre Heimatgemeinden zurückgeschickt, die oft schlecht darauf vorbereitet waren, diese Menschen aufzunehmen und sich um deren Kinder zu kümmern.
Die Erfahrung mit den offenen Szenen veranlasste die Behörden dazu, eine fortschrittlichere DrogenpolitikExterner Link zu entwickeln, die auf vier Säulen beruht: Prävention, Therapie, Schadensminderung und Repression. Die Schweiz war weltweit das erstes Land, das eine kontrollierte Abgabe von Heroin einführte und sichere Injektionsräume einrichtete.
(Übertragung aus dem Französischen: Rita Emch)
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