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Die Geschichte vom Tisch, vom Fleisch und vom Fondue

Gegenüberstellung von Hunger und Überfluss: Bis ins 19. Jahrhundert war auch die Schweiz von Hungersnöten betroffen, heute grassiert das Übermass. Mara Truog

Eine Schweizer Nationalküche gibt es nicht. Vielmehr bringt jede Landesgegend ihr eigenes Gericht hervor und so spiegeln sich die soziale Geschichte des kleinen Landes sowie die politische Realität also auch in den Schweizer Tellern wider.

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«Essen ist ein interessantes Thema, das weit über das elementare Bedürfnis der Nahrungsaufnahme hinausgeht», erklärt Kuratorin Pia Schubiger auf dem Rundgang durch die Ausstellung «Was isst die Schweiz?»Externer Link. Das bestimmende Element in den beiden Räumen sind Tische, gedeckt mit verschiedensten Objekten. Für Schubiger ein zentraler Aspekt: «Der Tisch ist der Ort, an dem wir zusammenkommen, an dem das soziale Leben während des Essens stattfindet.»

Essen ist ein sozialer Akt

Die Ausstellung im Forum Schweizer Geschichte in Schwyz beleuchtet denn auch beispielsweise Aspekte der «Tafelkultur und Tischsitten». Der Besucher erfährt, dass sich Tischtücher aus Leinen und Servietten in der Schweiz ab dem 15. Jahrhundert verbreiteten. Erst im 17. Jahrhundert setzte sich die – damals noch zweizinkige – Gabel hierzulande durch, zuvor ass man mit Messer und Löffel.

«Eines der Highlights der Ausstellung ist das Einsiedler Service», sagt Kuratorin Schubiger. Zu sehen sind Teile eines Speise-, Tee- und Kaffeeservice› aus dem 18. Jahrhundert: Die Zürcher Regierung schenkte dem Kloster Einsiedeln 1776 als Dank für die Vermittlung in einem Streit ein Ensemble aus 300 Teilen. Hergestellt wurde es in der ersten Porzellanmanufaktur der Schweiz, in Kilchberg-Schooren. Doch was tischten die Menschen damals überhaupt auf?

Landwirtschaft und soziale Herkunft bestimmten, was auf den Teller kam – bis zur Industrialisierung im 19. Jahrhundert und bis zur Demokratisierung des Essens im 20. Jahrhundert. In Anlehnung an die barocken Stillleben passieren auf einem Bildschirm mögliche Menus vom 15. bis 21. Jahrhundert. «Die Bilder sollen den Appetit anregen», sagt Schubiger. Und sie wagen auch den Blick auf ein mögliches Menu der Zukunft: Insekten am Spiess, Laborfleisch und «Micro Leaves». Womit wir bei der politischen Facette des Essens wären.

«Fleischhunger»: Essen als politischer Akt

Eben erst trat in der Schweiz ein neues Gesetz in Kraft, das Insekten wie Grillen, Mehlwürmer und Wanderheuschrecken für den Verzehr zulässt. Politisch gefärbt sind auch Diskussionen über Alternativen zum Fleischkonsum und der damit einhergehenden Massentierhaltung sowie deren ökologischen Folgen. Die Ausstellung widmet dem Thema «Fleischhunger» ein ganzes Kapitel.

Dazu gehört auch eine Metzgerei, bei der man erst bei genauerem Hinsehen sieht, dass sie gestrickt ist. Am Werk war die Strickkünstlerin Madame Tricot. «Sie strickt alles, was sie isst», sagt Schubiger. Und sie isst nach dem Grundsatz, «wenn schon ein Tier töten, dann auch das ganze Tier essen». Deshalb findet der Besucher in der Metzgerei auch vom «Schnörli» bis zum «Schwänzli» alles vom Schwein.

Fleisch gegessen wird in der Schweiz seit dem 19. Jahrhundert reichlich: Damals durch die industrielle Fleischwirtschaft angekurbelt, vervielfacht sich der Konsum ab 1950 von 31,5 auf den Höchstwert von 71 Kilogramm pro Kopf im Jahr 1987. Heute essen Schweizerinnen und Schweizer im Durchschnitt 52 Kilogramm Fleisch pro Jahr, weltweit steigt der Konsum aber weiter, Agrarexperten rechnet bis 2050 mit einer Verdoppelung.

Schweizer Spitzenköche

Wer vom Essen spricht, kommt ums Kochen nicht herum: So widmet die Ausstellung «Was isst die Schweiz?»Externer Link auch einen Teil den Kochbüchern und vor allem den Schweizer Spitzenköchen. Denn die Schweizer Gastronomie weist europaweit die höchste Dichte an Sterne-Lokalen auf.

Und auch im Ausland sorgen Schweizer Spitzenköche für Schlagzeilen. Als erster Schweizer Koch brachte es Frédy Giradet in Crissier zu Sternen. Ihn und viele weitere engagierte Köche und Köchinnen aus allen Landesgegenden listet die Ausstellung an einer Wand in Bildern auf. 

Die Ausstellung zeigt aber auch Alternativen auf. So stellt sie, angerichtet auf weissen Tellern, Zahlen zur Fleisch- und Insektenzucht gegenüber. Wie wäre es, wenn wir statt auf Fleisch vermehrt auf die – vielen von uns noch ein bisschen suspekt wirkenden – Insekten zurückgreifen würden, so wie es zwei Milliarden Menschen weltweit bereits regelmässig tun? Im Vergleich zur Rinderhaltung verursacht die Insektenzucht nämlich hundert Mal weniger Treibhausgase, und mit der gleichen Futtermenge, die für ein Kilogramm Rindfleisch benötigt wird, kann zwölf Mal mehr Insektenfleisch produziert werden.

Werbeaktion der Käseunion: Fondue

«Essen ist alltäglich, aber nicht banal», betonte Kuratorin Schubiger gleich zu Beginn der Führung. Auf dem Rundgang wird das dem Besucher mehrmals vor Augen geführt, so zum Beispiel auch mit einem Tisch, der nur halb gedeckt ist: «Hunger und Überfluss» zeigt, dass Hungersnöte über die Jahrhunderte auch in der Schweiz auftraten.

Die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts aber ist geprägt von Überfluss, der schweizerische Ernährungsbericht von 1984 stellt fest, dass in der Schweiz zu viel, zu süss, zu fett und zu ballaststoffarm gegessen wird. Heute ist die Hälfte der männlichen und ein Drittel der weiblichen Bevölkerung übergewichtig. «Was wir essen, hängt auch davon ab, was uns die Lebensmittelindustrie verkaufen will», sagt Schubiger und spricht damit den wirtschaftlichen Aspekt des Essens an.

So erfährt der Besucher zum Beispiel, dass ausgerechnet das Fondue, Inbegriff einer unverfälschten Schweizer Tradition, 1930 durch eine geschickte Werbeaktion der Käseunion zum Nationalgericht erkoren wurde. Erfunden haben sollen es Sennen, das erste Rezept tauchte 1699 auf, allerdings ist darin nichts zu lesen von «Fondue» oder aufgespiessten Brotwürfeln. Heute wird es praktisch in der ganzen Schweiz gegessen, allerdings finden sich je nach Region unterschiedliche Rezepte für dessen Zubereitung.

Zum Schluss der Führung bewegt sich Schubiger in Richtung Genusstisch. «Essen ist schliesslich auch eine sinnenfreudige Angelegenheit!», sagt sie und lädt lachend zum Probieren ein. Selbstgemachte Amaretto und Schokoladenkugeln liegen auf dem grünen Tischtuch. Und für die ganz Mutigen, schön präsentiert in kleinen Schalen: Insekten. Guten Appetit!

«Bloderkäse», «Boutefas» und «Hafächabis»

2018 beteiligt sich die Schweiz am Europäischen Jahr des KulturerbesExterner Link. Die Initiative lenkt die Aufmerksamkeit auf die Leistungen des kulturellen Erbes für die Gesellschaft.

Dabei geht es auch um das kulinarische Erbe, dem die Ausstellung «Was isst die Schweiz?»Externer Link einen Schwerpunkt widmet.

Zwischen 2012 und 2016 erschien das Inventar des kulinarischen Erbes der Schweiz. Nach Regionen gegliedert erzählt es die Geschichten einzelner Speisen.

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SRF (Tagesschau vom 20.04.2017)

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