«Schweizer Literatur ist Übersetzungsliteratur»
Bücher von Friedrich Dürrenmatt, Eveline Hasler und Hugo Loetscher auf Polnisch? Kein Problem - dank engagierten Wissenschaftern, die Schweizer Literatur nach Polen holen.
Hugo Loetscher wurde kürzlich zu einer so genannten Schweizer Woche nach Warschau eingeladen, um über Literatur zu sprechen. Dass die deutschsprachige Schweizer Literatur an den polnischen Universitäten eine Präsenz hat, ist nicht selbstverständlich.
«Da zeigt sich etwas für unser Land Wichtiges, dass wir auch kulturell zur Kenntnis genommen werden und nicht nur als Merkantildemokratie», sagt Loetscher im Interview mit swissinfo.
swissinfo: Wie kommt eine polnische Universität dazu, in Warschau eine Schweizer Woche zu veranstalten?
Hugo Loetscher: Für den Literaturaustausch zwischen der Schweiz und Polen sind die Solothurner Literaturtage wichtig. Dort werden polnische Germanisten und Übersetzer eingeladen und es ergeben sich Bekanntschaften und Netzwerke.
Das hat etwas Zufälliges, aber das Entscheidende ist: diese Brücke wurde gebaut und wird jetzt begangen. Es ist wichtig, dass dieser Kontakt von uns aus, also etwa von der Kulturstiftung Pro Helvetia, gepflegt wird.
swissinfo: Was interessiert die polnischen Leser und Germanisten an der kulturellen Schweiz?
H. L.: Polen schaut in Abgrenzung zur ehemaligen Sowjetunion erst einmal Richtung Westen, nach Frankreich. Daneben ist auch die Schweiz günstig gelegen, weil sie politisch nicht belastet ist.
swissinfo: Im Gegensatz zu Deutschland?
H. L.: Man darf nicht vergessen, dass die deutsche Sprache und die deutsche Kultur für Polen einmal enorm wichtig waren. Deutsch war für ganz Osteuropa die erste Fremdsprache der Kultur. Dies hat mit den Nazis enorm gelitten.
Es war klar, dass man in irgend einer Art und Weise mit diesem Deutschland auskommen musste. Eine Möglichkeit war, sich an die deutsche Literatur zu erinnern, die mit Nazideutschland nichts zu tun hatte. Die Polen begannen schon bald nach dem zweiten Weltkrieg, als das Verhältnis zu Deutschland noch reichlich gespannt war, sich für deutschsprachige Literatur zu interessieren.
Die Ideologie von West und Ost hat uns die Geografie durcheinander gebracht. Die polnische Stadt Stettin liegt tatsächlich näher bei Berlin als Frankfurt oder München, war für uns im Westen aber lange eine Stadt jenseits des Eisernen Vorhangs. Die Geografie widerspricht der Ideologie.
swissinfo: Welche Deutschschweizer Autoren werden in Polen gelesen?
H. L.: Die klassischen Autoren, Dürrenmatt und Frisch. Gerhard Meier geniesst grosse Achtung, ausserdem sind Otto F. Walter, Peter Stamm und Perikles Monioudis dabei. Und vor vier Jahren wurde mein Roman «Noah» ins Polnische übersetzt.
swissinfo: Wenn an polnischen Universitäten über Eveline Hasler, Klaus Merz, Peter Stamm und Hugo Loetscher geforscht wird, versuchen die Polen das verbindende Schweizerische bei diesen Autoren herauszufinden?
H. L.: Wenn ich an polnischen Universitäten eingeladen werde, gibt es einerseits Veranstaltungen, die mit meiner Literatur zu tun haben. Daneben geht es mir immer auch darum, über die Schweiz zu sprechen, die multikulturelle Schweiz, Schweizer Demokratie. Das sprengt dann den Rahmen des rein Literarischen hin zur schweizerischen politischen Kultur.
swissinfo: Germanisten gibt es überall auf der Welt. Warum boomt in Polen ausgerechnet die Deutschschweizer Literatur?
H. L.: Das ist nicht so leicht zu beantworten, denn international verliert die Germanistik an Boden. In Polen dagegen floriert die Forschung über deutschsprachige Literatur. Das kann man wohl nur mit der historischen Bedeutung von Deutschland erklären.
Dahinter steht noch ein anderes Thema. Die Zukunft gehört nicht mehr den rein nationalen Literaturen. Wenn man ein Problem wie Identität behandeln will, kann man dies nicht mehr national tun, sondern springt über das Nationale hinaus.
Was auf der einen Seite ein Verlust von Interesse für die nationalen Literaturen ist, wird wettgemacht durch ein Sich-Öffnen gegenüber den anderssprachigen Literaturen. Dann wird es interessant, wenn man sich aus der eigenen Sprachkultur heraus öffnet, auf das andere hinweist und es mit einbezieht.
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Pro Helvetia
swissinfo: Welche Bedeutung hat dabei die Übersetzung?
H. L.: Es gibt einen wundervollen Satz von einem Holländer: «Die Sprache Europas ist die Übersetzung.» Wenn wir heute von einem literarischen Bewusstsein reden wollen, geht das nicht ohne Übersetzung. Auch für uns in der viersprachigen Schweiz. Es gibt doch kaum jemanden, der die vier Literaturen in der jeweiligen Originalsprache kennt.
Auch die Schweizer Literatur ist eine Übersetzungsliteratur. Das gilt umso mehr in Europa, wo es um mehr als nur gerade vier Sprachen geht. Und erst recht, wenn man über die Grenzen Europas hinausgeht.
Die kommende Kultur ist in entscheidendem Mass Übersetzungskultur. Letztlich geht es in der Literatur immer ums Wort, um die Bedeutung des Wortes und damit um die Übersetzung.
swissinfo: Polen ist seit 2004 EU-Mitglied, die Schweiz hält sich weiterhin draussen. Spielt dies in der Kultur eine Rolle?
H L.: Die kulturelle Schweiz wird nicht aus Europa ausgeschlossen, weil sie nicht zur EU gehört. Das hat miteinander wenig zu tun.
swissinfo-Interview: Susanne Schanda
Die «Schweizer Woche» in Warschau geht auf die private Initiative von Andrzej Pienkos, Professor für Kunstgeschichte, zurück.
Erstmals 2007 durchgeführt, thematisierte die «Szwajcaria» das Image der Schweiz.
Die zweite Ausgabe dieses Jahr hatte die Schwerpunkte Architektur und Deutschschweizer Literatur.
Unterstützt wird die «Schweizer Woche» von der Kulturstiftung Pro Helvetia, die in Warschau ein Büro betreibt, und der Schweizer Botschaft.
An mehreren polnischen Universitäten wird über Deutschschweizer Literatur geforscht und gelehrt. Führend ist Wroclaw (Breslau), wo der zweisprachige Sammelband «Die Schweiz ist nicht die Schweiz. Zur interkulturellen Identität einer Nation» erschienen ist.
Die Universität Poznan (Posen) hat das Buch «Helvetische Literaturwelten im 20. Jahrhundert» publiziert.
Hugo Loetscher ist 1929 in Zürich geboren. In Zürich und Paris studierte er politische Wissenschaften, Soziologie und Literatur.
1958 bis 1962 literarischer Redaktor der Zeitschrift «du», danach Mitglied der Chefredaktion der «Weltwoche».
Seit 1969 ist Loetscher freier Schriftsteller und Publizist und bereist neben Europa Lateinamerika, Asien und die arabische Welt.
Loetscher erhielt zahlreiche Literaturpreise. 1992 wurde er mit dem Grossen Schiller-Preis der Schweizerischen Schillerstiftung ausgezeichnet.
Als die Schweiz 2004 Gastland an der internationalen Buchmesse in Warschau war, erschien Hugo Loetschers Roman «Noah» auf Polnisch.
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