Schweizer Märchen im Klassenzimmer
Die Berliner Märchentage sind eines der grössten Märchenfestivals der Welt. Heuer steht die Schweiz mit all ihren Mythen und Sagen im Mittelpunkt – von Heidi über Tell bis hin zu unbekannten Geschichten aus abgelegenen Bergtälern.
Die Kleinsten sitzen in der ersten Reihe, ihre Jacken haben sie ordentlich über die Stuhllehne gehängt. Der Geräuschpegel ist hoch, alle schwatzen wild durcheinander, doch als der hoch gewachsene schlanke Mann im schwarzen Rollkragenpullover vor sein Publikum tritt, sind die achtjährigen Mädchen und Buben schlagartig still.
«Wisst ihr was – ich sitze lieber auf dem Tisch», sagt Pierre Sanoussi-Bliss. Der dunkelhäutige Schauspieler räumt kurzerhand Wasserflasche und Glas beiseite und hockt sich schwungvoll auf die Tischplatte. «So, jetzt könnt ihr mich besser sehen.»
Die Spontanität des Gastes kommt an. «Der ist aber cool», flüstert ein Mädchen mit langen Zöpfen ihrer Freundin zu. Sanoussi-Bliss schlägt sein Notizbuch auf, aus dem er für die nächste Stunde vorlesen wird: Zum 19. Mal und noch bis zum 23. November finden in Berlin die Märchentage statt, eines der grössten Märchenfestivals der Welt.
Zu den unzähligen Veranstaltungsorten gehören auch Primarschulen, Hauptschulen und Gymnasien, die prominente Künstler, Autoren und Schauspieler als Vorleser engagiert haben.
Jedes Jahr steht ein Kulturkreis der Welt im Mittelpunkt der Berliner Märchentage; heuer dreht sich alles um Mythen und Märchen aus der Schweiz. Unter dem Motto «Tell-stories» finden dazu über 1000 Lesungen, Tanz- und Theaterveranstaltungen sowie Ausstellungen und wissenschaftliche Kolloquien statt.
Die Moser Schule, eine in der Schweiz gegründete Privatschule in Berlin-Charlottenburg, setzte an drei Tagen eine Märchenlesung auf den Stundenplan und lud dazu den Berliner TV- und Kinoschauspieler Pierre Sanoussi-Bliss als Vorleser ein.
Begeistertes Publikum
Auch im Zeitalter von Disneyfilmen, Comicfiguren und Computerhelden haben Märchen nach wie vor ihre Berechtigung. «Im Lehrplan für die acht- bis zehnjährigen Schüler sind Märchen ein wichtiger Bestandteil. Oft ist es für Kinder die erste Berührung mit Literatur», erklärt Daniela Plümecke, stellvertretende Schulleiterin an der Moser Schule.
Kinder lernten unter anderem, Merkmale eines Märchens zu definieren und der Bedeutung einer Geschichte auf den Grund zu gehen. «Das Berliner Märchenfestival ist natürlich eine tolle Ergänzung zum normalen Unterricht.»
Gebannt lauschen die rund 40 Kinder denn auch der sonoren Stimme ihres Vorlesers. Sanoussi-Bliss versteht es, die Aufmerksamkeit der Knirpse zu fesseln: Er gestikuliert mit den Händen, schneidet Grimassen und rollt mit den Augen.
Bei der Geschichte «Der verrückte Mariello», ein Märchen aus dem Tessin, das von einem dummen Bub handelt, der allerhand Blödsinn anstellt und seinen Eltern am Ende zu grossem Reichtum verhilft, ist das Gekicher besonders gross.
«Wollt ihr noch eins hören?», fragt Sanouusi-Bliss sein Publikum, und ein begeistertes Ja schallt ihm entgegen. «Eines Morgens hat ein Müller auf dem Mühlrad eine grosse und schwere Kiste gefunden», beginnt der Schauspieler. Es ist der Anfang vom rätoromanischen Märchen «Der Vogel, der die Wahrheit sagt», eine Geschichte von drei Geschwistern, die in die Welt hinaus ziehen um herauszufinden, wer ihre wirklichen Eltern sind.
«Vielfalt der Schweiz atmen»
Die Berliner Märchentage haben eine lange Tradition. Gegründet wurde das Festival 1990 am 2. April, dem Geburtstag von Hans Christian Andersen; seitdem findet es jeweils an 17 Tagen im November statt.
Heuer sollen die Märchen und Geschichten die Vielfalt der Sprachen, Dialekte und Landschaften der Schweiz atmen, schreiben die Veranstalter auf ihrer Homepage. So wird denn auch in allen Schweizer Sprachen erzählt, gesungen und vorgespielt.
Berühmte Gestalten wie Heidi oder eben Wilhelm Tell sollen dabei ebenso einen Platz haben wie eher unbekannte Sagen aus abgelegenen Bergtälern. Die einstündige Lesung mit insgesamt fünf Märchen jedenfalls hat den Schülerinnen und Schülern der Moser Schule gut gefallen.
«Ich fand es super, dass ein Schauspieler vorgelesen hat und keine normale Person», sagt ein Mädchen. Schweizer Märchen seien spannend und auch ziemlich brutal, findet ihre Banknachbarin. «Nur schade, dass darin so wenig Prinzessinnen und Zauberer vorkommen.»
swissinfo, Paola Carega, Berlin
Die Moser Schule wurde 1961 von Henri Moser in Genf gegründet. Seit 2005 gibt es einen Ableger in Berlin, der im Volksmund «Schweizer Gymnasium» heisst und derzeit von 135 Kindern besucht wird.
In der schmucken Villa in Charlottenburg, vor deren Eingang die Schweizer Fahne weht, herrscht eine familiäre Atmosphäre; die Schüler verschiedener Jahrgänge kennen sich untereinander, die Klassen sind klein.
Die private Ganztagesschule bietet einiges, was eine staatliche Schule nicht leisten kann. So lernen die Schüler von Anfang an auf Deutsch, Französisch und Englisch, erhalten also zum Beispiel Geografieunterricht in einer Fremdsprache.
Immersionsunterricht heisst die Methode, die Bildungsexperten als eine der besten halten, um eine Fremdsprache zu lernen. Ziel der Moser Schule ist das zweisprachige Abitur in zwölf Jahren; mit einer Zusatzprüfung ist darüber hinaus das französische Pendant, das «Baccalauréat», möglich.
Bis zum erfolgreichen Abschluss müssen die Eltern tief in die Tasche greifen: 600 Euro kostet das Schulgeld im Monat, dazu kommen 100 Euro fürs Essen.
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