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Schweizer «Spasspavillon» an der Biennale Venedig

Der "Spass" beginnt hinter der Eingangsmauer: Der Schweizer Pavillon an der diesjährigen Architektur-Biennale in Venedig. Swiss Arts Council Pro Helvetia

Aus den 66 Pavillons, die dieses Jahr an der Architekturbiennale in Venedig präsentiert werden, wird der schweizerische höchstwahrscheinlich herausragen. Kurator Hans Ulrich Obrist erklärt, wie er mit den Architekten Herzog & de Meuron und zahlreichen Künstlern einen "Spasspalast" erschaffen hat.

Als Startpunkt diente – wie bei allen nationalen Pavillons – das Thema «Absorbing Modernity 1914 – 2014». Leiter der 14. Architekturbiennale ist der renommierte niederländische Architekt Rem Koolhaas. Er lud die teilnehmenden Länder dazu ein, ihre architektonische Geschichte wiederaufzugreifen, um sie als Werkzeugkasten für künftige Erfindungen zu nutzen.

Hans Ulrich Obrist, bekannt als eine der prägendsten Figuren der Kunstszene, wurde von der Biennale-Jury der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia gewählt, um den diesjährigen Pavillon nach dem Vorbild seiner bahnbrechenden «Utopia Station» der Kunstbiennale 2003 in Wien zu gestalten.

Er entschied sich dafür, zwei visionäre Denker zu ehren, die das zeitgenössische Architekturdesign massgebend beeinflusst haben, und die er gut kannte: Lucius Burckhardt und Cedric Price. Doch statt eine Ausstellung zu machen, schlägt Obrist mit seiner kennzeichnenden kuratorischen Note eine kreative Plattform vor, am Kreuzungspunkt von Kunst und Architektur.

Burckhardt, ein Schweizer Polit-Ökonom und der Erfinder der «Spaziergangswissenschaft», und der britische Architekt Price haben laut Obrist «die Architektur als sich um Menschen, Raum und Leistung drehend» neu definiert. Beide Männer sind 2003 gestorben.

In einfachen Worten gesagt, waren sie die ersten, die an die Architektur nicht aus der Perspektive des Erbauers (wie?) herangingen, sondern in Antwort auf die sich verändernden Bedürfnisse der Benutzer (warum?).

Cedric Price: «Fun Palace», Innenansicht, 1964 Cedric Price

Spasslabor

«A stroll through a fun palace» (Ein Spaziergang durch einen Spasspalast), wie das Pavillon-Projekt genannt wird, nimmt Bezug auf Price› einflussreichstes Design. Sein Fun Palace von 1961 war eine Pionierleistung, weil er das Konzept vertrat, dass ein Gebäude unbeständig und flexibel sein sollte, und dass der Benutzer es fertigstellen könne. Noch wichtiger: Es sollte ein «Spasslabor» sein. «Sehr wenige Architekten haben die Architektur mit so wenigen Mitteln verändert», sagte Koolhaas über Price, der nur sehr wenige Bauten realisierte.

Obrists Projekt hat viele Facetten, die er mit einem Cocktail aus Architekten, Künstlern und Wissenschaftlern gemeinschaftlich erarbeitet hat. «Ich habe mich von Sergei Djagilew inspirieren lassen», sagt Obrist. «Mich interessiert die Idee, Disziplinen zusammenzubringen, um ein Gesamtkunstwerk zu schaffen.»

Djagilew, der Gründer der «Ballets Russes» zu Beginn des 20. Jahrhunderts, brachte alle Kunstformen zusammen, als er Strawinsky die Musik komponieren, Picasso die Dekors malen und Nijinsky tanzen liess. Jenen, die mit ihm arbeiten wollten, antwortete er: «Überraschen Sie mich!»

«Lucius Burckhardt and Cedric Price – A stroll through a fun palace» wird im Schweizer Pavillon von der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia präsentiert. Die Architekturbiennale dauert vom 7. Jun bis 23. November.

Während des Sommers werden Studierende der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich (ETH), wo Burckhardt lehrte, und anderer Institutionen mit Besuchenden in Dialog treten und an verschiedenen Tagen unterschiedliche Teile der Archive offenlegen.

Die Show wird als Architekturschule dienen, in der darüber reflektiert wird, wie sich die zeitgenössische Architekturlandschaft verändert.

Kurator Hans Ulrich Obrist sagt, der Schweizer Pavillon «wird ein Rendezvous von Fragen sein», mit Debatten und Marathons, während denen «Information Wissen wird». Während der Eröffnungstage wird eine Reihe von Diskussionen über Architektur, Landschaftsgestaltung und Darstellungsmöglichkeiten durchgeführt.

Die Anzahl der teilnehmenden Länder an der Architekturbiennale ist gegenüber der letzten Austragung um 20% angestiegen.

Kreative Störung

Laut Obrist hätten sowohl Price wie auch Burckhardt die Idee einer statischen Ausstellung gehasst: «Sie hätten eine performative Art gefunden, ihre Archive zu präsentieren, in denen sich auch viele Bilder befinden. Sie wollten Künstler miteinbeziehen, weil diese ständig auf der Suche nach neuen Formaten für Ausstellungen sind.»

Die Künstler, die Obrist eingeladen hat, standen alle bereits einmal in einem Dialog mit der Architektur. Er organisierte eine Reihe von «Think Tanks» (er nennt sie auch «Kollaboratorien»), um eine mobile Darstellungsform für den Pavillon auszuarbeiten, «eine, die immer lebendig bleibt, bei der jeden Tag verschiedene Aspekte der Archive entdeckt werden können».

Obrist fragte zuerst die Schweizer Architekten Herzog & de Meuron für jenen Teil der Ausstellung an, der deren ehemaligem Lehrer Lucius Burckhardt gewidmet werden sollte. Doch rasch wurde klar, dass sie auch das gesamte Design des Pavillons übernehmen würden.

«Herzog & de Meuron haben oft mit Künstlern wie Thomas Ruff und Gerhard Richter gearbeitet, daher dachte ich, es könnte interessant werden, sie mit einer jüngeren Generation von Künstlern zusammenzubringen, mit der sie noch nie gearbeitet haben», so Obrist.

«Je länger wir redeten, desto weniger ‹physisch› wurde die Ausstellung. Schliesslich entschieden sie sich für ein Konzept , das in ihren Worten erlaubt, dass ‹das mentale Universum von Lucius und Cedric im Raum schwebt›.»

Wie ein mentales Universum in den Augen jener Architekten aussehen mag, die für die Tate Modern und das Vogelnest-Stadion in Peking berühmt geworden sind, wird dem Publikum ab dem 7. Juni vor Augen geführt.

Der 1968 in Zürich geborene Hans-Ulrich Obrist ist heute Co-Direktor Ausstellungen und Programme an der Serpentine Gallery in London, gemeinsam mit Julia Peyton-Jones.

Er hat schon mehr als 250 Ausstellungen kuratiert und engagiert sich im laufenden «Interview Project».

Seit er als Teenager die Architekten Herzog & de Meuron getroffen hatte, interessierte er sich in seiner Arbeit als Kurator auch für die Architektur.

Jeden Sommer lässt die Serpentine Gallery von einem weltbekannten Architekten einen Sommerpavillon bauen.

Für seine «Utopia Station» an der Kunstbiennale 2003 in Wien liess er Sprecher, Schriftsteller, Tänzer, Performer und Musiker ein Projekt ausarbeiten, «das zwischen innen und aussen oszillierte».

Die Antwort der Künstler

«Für die Künstler war die Idee dieser Ausstellung in einem experimentellen Format eine Inspiration», sagt Obrist. Er arbeitet bei Projekten, bei denen ein transdisziplinärer Ansatz und eine Form störender Kreativität nötig ist, oft mit der gleichen Gruppe von Künstlern.

Darunter der französische Künstler Philippe Parreno, der kürzlich das gesamte Palais de Tokyo in Paris bespielte. Er ist weitherum bekannt dafür, Ausstellungen erfolgreich als Experimente umzudefinieren. Er setzt zu diesem Zweck eine Vielzahl von Medien ein. Für den Schweizer Pavillon hat er ein System von Jalousien entworfen, um den Raum zu strukturieren.

Ihm zur Seite stehen Dominique Gonzalez-Foerster, bekannt für ihre inspirierenden Neonschriften, und der Berliner Tino Seghal, dessen «konstruierte Situationen» zum Vergänglichsten gehören, was Kunst sein kann. Carsten Höller, der verspielte Installationen schafft, hat einen Baum gepflanzt.

Und auch weitere Künstler werden Burckhardt and Price ihre Ehrerbietung erweisen, wie etwa der Turner-Preis-Gewinner Liam Gillick, Dan Graham und die immer wieder überraschende Koo Jeong-a. Diese zeigt ihre Installation «Cedric & Frand», ein Werk aus 3000 Magneten (1997 hatte Price eine Show namens «Magnets» zum Thema antizipierter Architektur präsentiert).

Über dem Eingang zum Schweizer Pavillon erlaubt eine starke visuelle Intervention des japanischen Architektur-Ateliers «Bow-Wow» eine neue Sicht vom Dach aus auf die Giardini, in denen die Biennale stattfindet.

Price und Burckhardt würden zweifellos ihre Freude gehabt haben: Ihre visionäre Sicht der Dinge hat mitgeholfen, dass der Schweizer Pavillon «ein Spaziergang durch einen Spasspalast» geworden ist – weit weg von der Normalität statischer Ausstellungen.

Lucius Burckhardt (1925–2003) war ein Schweizer Polit-Ökonom, Soziologe und Kunsthistoriker, der die «Spaziergangswissenschaft» (Promenadologie) erfand, mit dem Ziel, die Umweltwahrnehmung zu erweitern. Als Planungstheoretiker integrierte er die sicht- und die unsichtbaren Aspekte der Städte, politische und wirtschaftliche Überlegungen wie auch soziale Beziehungen in den Prozess. Seine Lehre gewinnt immer mehr Einfluss, besonders der Aspekt der Nachhaltigkeit. Er förderte die Idee, Objekte umzudefinieren, statt neue anzuschaffen.

Cedric Price (1934–2003) war ein englischer Architekt und einflussreicher Architekturlehrer und -schriftsteller. Architektur sollte für ihn nicht definitiven ästhetischen Meinungen unterworfen sein, sondern für den Nutzer flexibel bleiben. Über sein berühmtes Projekt, den nie gebauten «Fun Palace» (1961), schrieb er: «In Form und Struktur eine grosse Schiffswerft, in der Theater, Kinos, Restaurants, Ateliers, Säle fortlaufend erstellt, bewegt, neu gruppiert und auseinandergenommen werden können». Das revolutionäre Pariser Centre Pompidou (1977) wurde durch den Entwurf zum Spasspalast inspiriert.

(Übertragen aus dem Englischen: Christian Raaflaub)

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