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Schweizer Städte stellen sich ihrem kolonialen Erbe

Erklärungen auf einem Handybildschirm vor einer Statue
Die Erklärungen des Rundgangs "Neuchâtel, empreintes coloniales", hier vor der Bronzestatue von David de Pury, können unter anderem auf einem Mobiltelefon abgerufen werden. © Keystone / Jean-christophe Bott

Die Geschichte mehrerer Schweizer Städte, die mit der Kolonialzeit verbunden ist, muss neu geschrieben werden. Doch wie kann man umstrittene Symbole in einen Kontext stellen, ohne sie zu zerstören?

Statuen, Büsten und Strassennamen, welche die Identität der ehemaligen Elite hochhalten, sind in der Schweiz immer noch Schandflecke. Zehn Jahre nach dem Aufkommen der «Black Lives Matter»-Bewegung und drei Jahre nach dem Tod von George Floyd durch einen US-Polizisten setzen Städte in der Schweiz die Aufarbeitung ihrer Kolonialgeschichte fort.

Zwischen dem 17. und 19. Jahrhundert profitierten Zürich, Bern, Genf oder auch Neuenburg von den Wohltaten ihrer Gönner. Deren Namen und Reichtum bleiben jedoch direkt oder indirekt mit dem Sklavenhandel verbunden.

Sie waren durch den Dreieckshandel mit Sklavinnen und Sklaven reich geworden und hatten Zucker, Kakao, Kaffee und Tabak nach Europa gebracht.

Neuenburg begleitet den Prozess

Zum Dank für ihre Spenden haben die Städte ihren Mäzenen imposante Denkmäler aufgestellt oder sie anderweitig verewigt. Doch diese Spuren stören heute die Stadtbilder. Umso mehr, als die inkriminierten Namen oft die wichtigsten Denkmäler zieren.

Jacques-Louis de Pourtalès, Plantagenbesitzer auf den Antillen und reich geworden durch den Kolonialwarenhandel, also den Import von Produkten aus den ausgebeuteten Kolonien, hat Neuenburg so sehr geprägt, dass das grösste Spital noch heute seinen Namen trägt.

Ein weiterer umstrittener Ort ist das Hôtel du Peyrou, benannt nach Pierre-Alexandre DuPeyrou, einem in Surinam geborenen Geschäftsmann, der sein riesiges Vermögen vor allem den Tabakplantagen verdankte. In diesem prächtigen Gebäude, das der Stadt gehört, finden heute öffentliche Anlässe wie Bankette statt.

Der Kaufmann David de Pury, dessen Statue im Sommer 2020 mit roter Farbe beschmiert wurde, war schliesslich der Grund dafür, dass sich der Wind der Geschichte in Neuenburg drehte.

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Eine Reportage des französischsprachigen Téléjournal vom 23.3.2023

Plötzlich mit diesem Teil der Geschichte konfrontiert, entwickelte die dortige Stadtverwaltung eine «Begleitmassnahme». Mit anderen Worten: konkrete Massnahmen zur besseren sozialen und kulturellen Integration der verschiedenen Bevölkerungsgruppen.

«Die Stadtregierung hat einstimmig beschlossen, diese Überlegungen gemeinsam mit den Bewegungen der Zivilgesellschaft anzustellen», erinnert sich Thomas Facchinetti, Verantwortlicher für Kultur, Integration und sozialen Zusammenhalt in Neuenburg.

Inzwischen wurde vor der Statue eine Tafel mit einem kurzen Text angebracht, der die Rolle von de Pury neu einordnet. Und eine Ausstellung im Geschichtsmuseum widmet sich den Seewegen.

Der Demütigung noch mehr Demütigung hinzufügen

Die Stadt schlug jungen Künstlerinnen und Künstlern vor, mehrere Werke zu schaffen, um einen «Dialog» zwischen ihnen und der über fünf Meter hohen Bronzestatue von de Pury herzustellen.

Eines dieser Werke, eine umgedrehte Statuette im Taschenformat, die den rassistischen Glaziologen Louis Agassiz verkörpert, würde jedoch kaum gegen die Statue von David de Pury ankommen.

Kleine auf den Kopf gestellte Statue mit einer grossen Statue im Hintergrund
In Neuenburg ist das Werk «Great in the concrete» des Künstlers Mathias Pfund nun neben der Statue von David de Pury zu sehen. © Keystone / Jean-christophe Bott

Diese Darstellung irritiert Kanyana Mutombo, Generalsekretär der Genfer Organisation «Carrefour de réflexion et d’action contre le racisme anti-noir» (CRAN).

«Mit dieser Art von Aktion fügt man der Demütigung eine weitere Demütigung hinzu. Wo bleibt der Dialog zwischen de Pury und denjenigen, die seinen Reichtum geschaffen haben, den schwarzen Sklavinnen und Sklaven?», fragt er.

Er selbst ist gegen die Entfernung der Statue. «Sie muss ihre historische Verbindung zu Stadt und Kanton behalten. Man kann sie nicht einfach abreissen», sagt er. Er fordert jedoch, dass «auch die andere Geschichte, die der Versklavung der Schwarzen, anerkannt wird» und fügt hinzu: «Es ist nie zu spät, sich zu erinnern.»

Um das Angebot der Beschäftigung mit dem Kolonialismus zu vervollständigen, hat die Stadt Ende März einen Parcours namens «Empreintes coloniales» (Koloniale Spuren) eingeweiht. Mit Hilfe einer Handy-App kann man an sieben neuralgischen Punkten verweilen, wobei die Statue de Purys als Ausgangspunkt dient.

Die Städte übernehmen das Zepter

Neuenburg wäre eine der ersten Städte, die zumindest auf der Ebene der Exekutive die Verantwortung für die Organisation eines solchen Lernparcours übernehmen würden. Aber auch in Freiburg, St. Gallen, Winterthur und Basel gibt es ähnliche Parcours.

Bisher wurde diese Aufgabe vor allem von antirassistischen Bewegungen übernommen. In Bern ist dies seit 2005 die Gruppe Cooperaxion, deren Ziel es ist, Politik und Bevölkerung für die Verstrickung ihrer Stadt in den Dreieckshandel zu sensibilisieren.

«In Genf, wo demnächst ein Bericht über die umstrittenen Standorte erwartet wird, geht die Stadtverwaltung in die gleiche Richtung. Ein ähnlicher Parcours dürfte folgen», sagt Matthieu Gillabert, Professor für Zeitgeschichte an der Universität Freiburg, den Neuenburg für seinen Umgang mit dem Thema als Experten konsultiert hatte.

In Genf stört vor allem die Präsenz von Carl Vogt, einem Gelehrten des 19. Jahrhunderts, der rassistische Thesen vertreten hatte. Im vergangenen September hat die Universität das nach ihm benannte Gebäude am Boulevard Carl Vogt umbenannt. «Wir haben alle Denkmäler und Orte identifiziert, um zu entscheiden, welche problematisch sind», sagt Mutombo.

«Unsichtbare Spuren» in Zürich

Auch Zürich, die Wirtschaftsmetropole der Schweiz, hatte seine Mäzene. So konnte Alfred Escher, der Gründer der späteren Credit Suisse, auf eine Familie zählen, die mit Sklavenarbeit auf ihren Plantagen in Nordamerika ein Vermögen gemacht hatte.

Nach dem Tod seines Vaters Heinrich erbte er eine Million Franken, die Liegenschaften nicht eingerechnet. Im Zürcher Kreis 2 beispielsweise vermachte die Familie Escher der Stadt den Belvoir-Park mit seinen exotischen Bäumen und Pflanzen.

Grosse Bronzestatue eines Manns vor einem Bahnhof
Die Bronzestatue von Alfred Escher vor dem Eingang des Hauptbahnhofs in Zürich. © Keystone / Christian Beutler

Auch hier haben Akademikerinnen und Akademiker unter dem Namen «Koloniales Zürich» einen Rundgang wie in Bern und Neuenburg zusammengestellt.

Die Tour beginnt bei der Villa Patumbah, die 1885 erbaut wurde und eine der prachtvollsten Villen Zürichs ist. Dahinter verbirgt sich der Name Karl Fürchtegott Grob, einer der reichsten Zürcher des 19. Jahrhunderts, der mit Tabak aus Sumatra handelte.

Die Stadtbehörden haben beschlossen, diesen Frühling den Stier bei den Hörnern zu packen und bis Mitte Juli eine Ausstellung über koloniale Spuren im öffentlichen Raum zu organisieren. Sie sind unter dem Titel «Blinde Flecken» im Zürcher Stadthaus zu sehen.

«Die Verbindungen zu den Kolonien trugen zum Aufstieg der Stadt als Wirtschaftsmetropole bei. Aber dieser hatte seinen Preis. Der Paradeplatz steht symbolisch für diesen Aufstieg und für ein System, das Wohlstand brachte, aber auch Opfer forderte», fassen die Kuratorinnen und Kuratoren der Ausstellung in ihrem Katalog zusammen.

Diskussionen über das «bittere Erbe des Kakaos» sind geplant. Und Lehrerinnen und Lehrer werden demnächst über die Möglichkeiten diskutieren, unsere heutige Gesellschaft durch einen kritischen Blick auf diese Zeit zu verändern.

Wiedergutmachung oder nicht?

All diese Bemühungen, das Image der Städte aufzupolieren, «reichen nicht aus, um die Vergangenheit wiedergutzumachen. Aber es ist ein Anfang», sagt der St. Galler Historiker und Aktivist Hans Fässler.

Für seinen Kampf an der Spitze des Schweizer Komitees für die Wiedergutmachung der Sklaverei zählt er auf die Unterstützung von Persönlichkeiten wie den ehemaligen Tessiner Staatsanwalt Dick Marty, die Filmemacher Markus Imhoof und Fredi M. Murer oder den Soziologen Jean Ziegler.

Die Städte hätten nicht lange gezögert, sich mit ihrer Vergangenheit auseinanderzusetzen, «In den letzten zwanzig Jahren wurden grosse Fortschritte in diesem postkolonialen Bewusstsein gemacht», sagt Fässler.

«Aber es kann noch mehr getan werden. Während die Mehrheit der Historikerinnen und Historiker diese Rückkehr begrüsst, gehen viele sogar so weit, eine historische Perspektive in der Diskussion zu erkennen, da es dieses Bewusstsein vorher nicht gab. Aber ohne ‹Black Lives Matter› wären wir nicht da, wo wir heute sind», sagt er.

Wiedergutmachung ist ein langwieriger und komplexer Prozess. «Und Spuren verwischen ist nie eine Lösung. Bei der Analyse von Denkmälern und problematischen Darstellungen muss jeder Fall einzeln betrachtet werden», so Fässler weiter. Die Alternative lautet: Entweder man macht ein Denkmal museal oder man kontextualisiert es vor Ort.

«Die Sklaverei war ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, das materieller und immaterieller Wiedergutmachung bedarf. Das gilt auch für die Schweiz, die stark davon profitiert hat. Aber diese Wiedergutmachung muss das Ergebnis eines Dialogs zwischen den Nachkommen der Profitierenden dieses Systems und den Nachkommen der Ausgebeuteten sein», fügt er hinzu.

Auf Anfrage bestätigt Facchinetti, dass in Neuenburg seines Wissens «keine materiellen Forderungen gestellt wurden». Das Thema sei auch nicht diskutiert worden. Er spricht vielmehr von einer «Anerkennung und Sensibilisierung auf allen Ebenen», besonders bei den Schulen.

Editiert von David Eugster, Übertragung aus dem Französischen: Christian Raaflaub

Übertragung aus dem Französischen: Christian Raaflaub

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