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Zeit für zeitloses Brauchtum

Die Tradition des Handorgel-Spielens wird in der Regel von einer Generation zur anderen weitergegeben. Keystone

Die Schweizer Traditionen trotzen der Globalisierung und der schnelllebigen Gesellschaft. Doch der Wettbewerb mit der digitalen Revolution ist nicht einfach. Wie bewahrt die Schweiz ihre Vergangenheit? Und gelingt ihr das?

Ein sonniger Nachmittag in der Aarauer Altstadt. Überall stehen Zelte, Stände und Bühnen. Durch die engen, beflaggten Gassen drücken sich Menschenmassen. Leute in traditioneller Tracht sitzen in den Restaurants, trinken Bier und essen Würste. Zuschauer bilden Halbkreise um Musikgruppen. Kleine Kinder haben jeden freien Quadratmeter in Beschlag genommen und bestaunen die Instrumente.

Am Eidgenössischen Volksmusikfest in Aarau unterhalten 1500 Musikerinnen und Musiker Mitte September während vier Tagen ein Publikum von über 100’000 Personen.

«Es ist wichtig, bei den Leuten das Bewusstsein für diese Traditionen zu erneuern, sie zu feiern. Deshalb brauchen wir Feste», sagt Alex Hürzeler, Regierungsrat des Kantons Aargau und unter anderem zuständig für Kultur. «Es spielt keine Rolle, ob sie in einem kleinen Dorf, einer Nachbarschaft oder auf nationaler Ebene wie dieses hier in Aarau durchgeführt werden. Sie sind nötig, um einen Gemeinschaftssinn zu verbreiten, Menschen zu ermöglichen, zusammen zu feiern, über Grenzen hinaus.»

Nationale Feste

Die Eidgenössischen Feste blicken auf eine fast 200-jähige Geschichte zurück. Ihre Wurzeln wurden bereits vor der offiziellen Gründung des Schweizerischen Bundesstaats gepflanzt.

Gelebte Traditionen: Das Eidgenössische Trachtenfest – es findet alle 12 Jahre statt. Keystone

Für fast alle traditionellen Tätigkeiten gibt es ein Fest. Das erste – das 1824 ebenfalls in Aarau stattfand – war ein Schützenfest. Zwischen 1832 und 2008 kamen 15 weitere Disziplinen hinzu, darunter das Schwing- (Kampfsportart), das Jodler-, das Trachten- und das Hornusserfest (Mannschaftssportart).

Heute sind die Eidgenössischen Feste sehr beliebt. Das letzte Schwingfest zog über 300’000 Zuschauer an, das Turnfest um die 100’000. Das Eidgenössische Schützenfest ist sogar das grösste seiner Art auf der Welt.

Traditionen pflegen

Der Duden definiert Tradition als «etwas, was im Hinblick auf Verhaltensweisen, Ideen, Kultur o.Ä. in der Geschichte, von Generation zu Generation [innerhalb einer bestimmten Gruppe] entwickelt und weitergegeben wurde [und weiterhin Bestand hat]».

In traditionellen Trachten gemeinsam zu tanzen ist etwas, was eine Familie während Jahrzehnten tun kann. Eine Frau in Aarau pflegt dieses Hobby seit 27 Jahren. So auch ihre Tochter. Es sei wichtig, «dass die Tradition gepflegt wird», sagt diese.

Eine Jodellehrerin allerdings sagt, es sei in ihrer Stadt schwierig, Leute zu finden, welche die Tradition fortführen möchten. «Wenn man jodeln wollte, musste man einem Jodelklub angehören, auf Konzerten auftreten und im Vorstand sitzen. Es bedurfte einer Verpflichtung.» Heute würden Jodelklubs weniger Leute anziehen. «Doch die Attraktion für die Musik bleibt. Ich finde es faszinierend, wie man die Stimme benutzen, von der Brust in die Kopfstimme wechseln kann. Und in einer Gruppe harmoniert es noch besser.»

Für die Teilnehmer am Volksmusikfest ist die traditionelle Musik weit entfernt vom Aussterben. «In der letzten Zeit hat das Interesse zugenommen, auch unter jungen Leuten», sagt Matthias Wüthrich, Musikredaktor des Volksmusiksenders Radio Tell. «Die Leute wollen wieder Musik machen, sich engagieren. Angesichts der Globalisierung ist das eine Bewegung zurück zu unseren Wurzeln.»

Am Volksmusikfest jedoch sind relativ wenig junge Menschen zu sehen. Und die Popularität anderer kultureller Traditionen ist unsicher. So fand etwa eine Trachtennäherin keine Nachfolgerin, die deren Geschäft nach der Pension übernehmen möchte. Und eine Frau an einem kleinen Webstuhl auf dem Marktplatz sagt, die jungen Leute hätten kein Interesse am Weben – und auch keine Webstühle.

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Regierung als Förderin

Auch wenn es meist Einzelpersonen und Familien sind, die Traditionen pflegen, spielen Gemeinschaften auf allen Ebenen eine Rolle, um diese am Leben zu erhalten. «Es ist eine geteilte Verantwortung zwischen der Eidgenossenschaft, den Kantonen, den Städten und den Dörfern», sagt David Vitali vom Bundesamt für Kultur (BAK). «Kultur ist primär ein Thema für die Kantone, während der Bund eine ergänzende Rolle spielt.»

Die Landesregierung (Bundesrat) versuche, zur Sichtbarkeit der Traditionen und dem Bewusstsein für diese beizutragen, sagt Vitali. Ein solches Projekt – das Vitali koordinierte – war die Auswahl von 167 lebendigen Schweizer Traditionen als Teil der Umsetzung der 2008 ratifizierten Unesco-Konvention zum Schutz des immateriellen Kulturerbes.

2012 publizierte die Schweiz das «Verzeichnis der lebendigen Traditionen»Externer Link. Die Traditionen, die von den Kantonen vorgeschlagen worden waren, mussten die Kriterien der Unesco-Konvention erfüllen. Dazu gehören die Überlieferung, die fortgesetzte Ausübung und der Sinn eines Identitäts- und Gemeinschaftsgefühls.

Traditionen und Tourismus

Laut Vitali reichen die Wurzeln der meisten Schweizer Traditionen nicht sehr tief. «Viele Traditionen sind gar nicht so alt, wie wir vermuten mögen. So war das Alphorn während der Anfänge des Tourismus praktisch in Vergessenheit geraten. Der Tourismus erfand diese Tradition neu und gab ihr jenen Platz, den sie heute innehat.»

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Heute profitierten Traditionen und Tourismus voneinander. «Wir haben festgestellt, dass das Interesse an Bräuchen, lebendigen Traditionen und Kulturlandschaften zunimmt, besonders unter Touristikern», sagt Vitali. «Etwa die Hälfte der Sommergäste in der Schweiz gibt kulturelle Werte und authentische Begegnungen als Hauptgründe für ihre Reise an, und nicht nur die Berge.»

Gleichermassen kann das Besucherinteresse auch helfen, Traditionen zu schützen. «Wertschätzung durch Aussenstehende kann das lokale Bewusstsein für einen Brauch oder eine Tätigkeit erhöhen. Als gutes Beispiel dafür könnte der jährliche Alpabzug des Viehs von den Sommerweiden stehen. Es gibt Tätigkeiten wie diese, die wiederbelebt wurden und heute tausende Zuschauer anziehen», so Vitali.

Traditionen unterstützen

Eine Tradition auszuüben «prägt den Alltag. Es strukturiert das Leben», betont er. «Laut der Unesco gibt es den Menschen einen Sinn für Identität und Kontinuität. Es hilft ihnen, sich in ihrer Umgebung zu orientieren.»

Für die Stadt Aarau ist die Veranstaltung von Eidgenössischen Festen unterdessen selber zu einer Tradition geworden. 2019, wenn das Eidgenössische Turnfest in Aarau über die Bühne gehen wird, kann die Stadt stolz darauf sein, innert 20 Jahren alle grossen Feste veranstaltet zu haben. Und das ist eine ganze Menge an überlieferter Tradition.

Leute hören dem traditionellen Betruf zu – auf dem Hohen Kasten im Appenzellerland. Keystone

(Übertragen aus dem Englischen: Christian Raaflaub)

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