Schweizerfilme, Mangas und Endzeitstimmung
Das Beste der Weltkinos projizieren, Fachwelt wie Publikum zusammenführen, neue Trends aufzeigen, den Blick auf Ungewohntes, Unbekanntes lenken, die Diskussion anregen - das 62. Internationale Filmfestival von Locarno hat viel vor.
Locarno ist der Inbegriff des Filmfestivals, das die Grossen aus der Film- und Glamourwelt nahe wie sonst fast nie zum «gewöhnlichen» Publikum bringt.
Aber auch dem Schweizer Film wird am Festival, das vom 5. bis 15. August dauert, ein grosser Auftritt garantiert.
An zwei Abenden stehen auf der Piazza Grande Schweizer Filme auf dem Programm. An der Journée du Cinéma Suisse wird zudem die Weltpremiere des Tessiner Films La valle delle ombre gezeigt.
Weiter sind Schweizer Regisseure aus den verschiedensten Generationen in den Wettbewerben des Festivals präsent: So Complices von Frédéric Mermoud, The Marsdreamers von Richard Dindo und Ivul von Andrew Kötting.
Als Weltpremieren gelangen Daniel Schweizers Dirty Paradise und Wolfgang Panzers Baba’s Song zur Aufführung.
Comic-Sprache in Locarno
Für Frederic Maire ist die Ausgabe 2009 das letzte Pardo-Festival als Direktor. Mit seinen Leuten begibt er sich in diesem Jahr auf ein Abenteuer, das man bislang auf einem Filmfestival vergeblich suchte.
Manga Impact – the World of Japanese Animation, ein Projekt, das dem westlichen Publikum den japanischen Animationsfilm näher bringen soll, indem es seine Geschichte vom Anfang bis zur Gegenwart dokumentiert.
Weiter wollen die Organisatoren den Manga-Einfluss auf das westliche Kino- und die abendländische Bilderwelt aufzeigen.
Um dem Thema Manga eine höhere Akzeptanz zu verschaffen, hat sich das Filmfestival für seine Retrospektive mit dem Nationalen Kinomuseum im italienischen Turin zusammengetan. Denn im Abendland wird nach Meinung der Veranstalter der «Reichtum bis heute in seinen kulturellen, ästhetischen und sozialen Komponenten unterschätzt».
So kann das Publikum nicht nur Manga-Filme bestaunen. Eine gemeinsame Ausstellung mit dem Nationalen Kinomuseum zeigt gut 40 Filmplakate, Action Figures (Puppen, die die Hauptfiguren spielen) sowie Storyboards, welche die Realisierung der einzelnen Szenen aufzeigen.
Schaufenster auch in unbekanntere Welten
Natürlich gelangt in Locarno auch grosses, internationales Kommerz-Kino zur Aufführung. Aber auch Filme aus bislang cineastisch eher unbekannten Ländern wie der Mongolei, Nordkorea oder Südafrika warten auf ein Publikum.
Das Programmsegment Ici & Ailleurs besteht aus gut 30 Programmen mit kurzen bis mittellangen, bislang ungezeigten Filmen. Darunter befinden sich 26 Weltpremieren.
Gemeinsam ist ihnen, dass sie sich mit dem aktuellen Zeitgeschehen befassen. So inszeniert der kurdisch-irakische Regisseur Hiner Saleem in Après la Chute die Geschichte vom Sturz Saddam Husseins aus dem fernen Paris oder ein Diplomand der Filmschule Lugano kehrt nach Ex-Jugoslawien ins Haus seiner Grosseltern zurück, die während des Krieges ermordet wurden.
Zeitzeugen kommen in Téhéran sans autorisations zur Sprache, indem die Regisseurin Sepideh Farsi mit ihrem Handy den Alltag in der iranischen Hauptstadt filmt. Ein bedeutungsvolles Thema, wenn man an die jüngsten politischen Ereignisse in Iran denkt.
Endzeitstimmung?
Aber auch die Beziehung Mensch – Natur, die durch politische und ökonomische Machenschaften geprägt wird, wird in den in Locarno gezeigten Werken nicht zu kurz kommen.
So erstaunt es nicht, dass einige Werke das Ende thematisieren, das Ende unserer, vom Menschen beherrschten Welt und jener, die es neu zu erfinden, erschaffen gilt. Grundtenor: Nicht mehr der Atomkrieg ist für den Weltuntergang verantwortlich, sondern die Auswirkungen ökologischer Katastrophen.
Grenzen des Spielfilms sprengen
Spielfilm und Theater konkurrenzieren sich längst nicht mehr. Aus diesem Grund ist der italienische Schauspieler, Autor und Theaterregisseur Pippo Delbono Ehrengast des 62. Filmfestivals am Lago Maggiore. Sein gesamtes filmisches Werk wartet in Locarno darauf, entdeckt zu werden.
Darunter befinden sich eine Reihe seiner Filme, die aus Anlass seiner Theateraufführungen entstanden sind, sowie Dokumentarfilme und bisher unveröffentlichte Werke. In einer Spezialvorführung wird auch Delbonos jüngster Spielfilm La paura gezeigt, der ausschliesslich mit einer Mobiltelefonkamera gedreht wurde. Sein Kurzfilm BlueSofa wird auf der Piazza Grande aufgeführt.
Was wäre Locarno ohne Internationalen Wettbewerb? Bislang sind 18 Filme aus 15 Ländern bestätigt worden, die im Internationalen Wettbewerb gezeigt werden, darunter 14 Weltpremieren, 7 Debütfilme und 4 internationale Premieren.
Etienne Strebel, swissinfo.ch
Die Programmsektion Open Doors engagiert sich für ausgewählte Filmprojekte, um geeignete Kooperationspartner vor allem aus Europa zu finden.
Open Doors wird unterstützt von der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA) des Schweizerischen Aussenminnisteriums EDA.
Open Doors wendet sich jedes Jahr einer anderen Weltregion zu.
Im Fokus 2009 steht der chinesische Kulturraum: Gezeigt werden Filme aus China, Hongkong und Taiwan.
2006 stand bei Open Doors Südostasien im Fokus, 2007 der Nahe und Mittlere Osten und 2008 Lateinamerika.
Das Budget des 62. Filmfestivals Locarno beträgt 11,3 Mio. Fr.
Die Wirtschaftskrise scheint bisher dem Filmfestival Locarno noch nicht so übel mitgespielt zu haben.
So konnten abgesprungene Sponsoren durch neue ersetzt werden.
Einer der Hauptsponsoren, die krisengeplagte Grossbank UBS, verlängerte soeben den Vertrag mit dem Festival bis 2012.
Trotzdem lebt die Veranstaltung laut Festivalpräsident Marco Solari von ihren Reserven, die 2010 aufgebraucht seien.
Die Suche nach Eigenmitteln müsse nochmals intensiviert werden, heisst es.
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