Sieg des pragmatischen Misstrauens
Die Schweizer Presse wertet das Ergebnis der Abstimmung als Ausdruck eines konservativen und liberalisierungs-skeptischen Souveräns.
In den Analysen widmet sie sich vor allem dem Sonntagsverkauf in Bahnhöfen und Flughäfen. Das knappe Ja sei ein Votum gegen eine generelle Öffnung am Sonntag.
Die solide Annahme des Gentech-Moratoriums mit 55,7% und das knappe Ja zu den Sonntagsverkäufen mit 50,6% ist ein Misstrauensvotum gegen den liberalen Kurs von Regierung und Parlament, darin sind sich die meisten Schweizer Zeitungen einig.
Konservatives Zögern
«Haarscharf für den Fortschritt», titelt etwa der «Tages-Anzeiger». Laut der Genfer Zeitung «Le Temps» nimmt die Schweiz nur kleine Schritte in die Zukunft – «Le futur à petits pas.» Für die Tessiner Zeitung «La Regione» enthält der Entscheid eine klare Botschaft für das Parlament: «Nur gemach!» – «Andateci piano».
Das Berner Blatt «Der Bund» schreibt von einem «Zittersonntag für den Bundesrat» und laut Boulevardblatt «Blick» zeigen die Konsumenten der Politik, wo es langgeht.
Das Ja sei eigentlich eher ein Nein, meint die «Berner Zeitung» und die «Aargauer Zeitung» glaubt, dass das Volk am Sonntag gezeigt hat, dass es keine Risiken will. «Die Luzerner Zeitung» bringt es in ihrer Schlagzeile auf den Punkt: «Wir bleiben konservativ.»
Die liberal ausgerichtete «Neue Zürcher Zeitung» sieht in den Entscheiden vom Sonntag «Warnbotschaften» von links-grünen und konservativ-christlichen Kräften, die man «genau vor Augen halten muss, will man mit Öffnungsschritten, mit Liberalisierungen politisch künftig weiterkommen.»
Zeichen für Bundesbern
«Zusammen sind die beiden Abstimmungs-Resultate des gestrigen Sonntags die unüberhörbaren Signale einer wertkonservativen Schweiz», kommt «Der Bund» weiter zum Schluss. Auch für die Westschweizer Zeitung «Le Matin» ist das Resultat ein «Warnschuss»:
«Der helvetische Bürger ist primär ein Konsument. Aber er ist auch pragmatischer Konsument.» Das doppelte Ja sei ein Warnschuss an die liberale Politik von Bundesrat und der Rechten im Parlament, schreibt die Zeitung weiter und appelliert: «Diese politische Realität müsse in Bern berücksichtigt werden.»
Ähnlich die «Neue Luzerner Zeitung»: «Wer in unserem Land Innovationen anstrebt, Öffnung, Veränderung, der muss uns von den handfesten Vorteilen als Konsumenten oder Arbeitnehmer überzeugen.»
Effiziente Allianzen
Der Sonntag hat aber auch gezeigt, dass die politischen Parteien keine zentrale Rolle gespielt haben: «Was bei beiden Vorlagen auffällt, sind die Koalitionen, welche herkömmliche Gräben aufzuschütten vermochten», schreibt das Luzerner Blatt.
Die «Neue Zürcher Zeitung» windet der Allianz von Bauern und Rot-Grün beim Gentech-Moratorium gar ein «Kränzchen». Obwohl sie das Abstimmungsresultat bedauert, fand sie, der Allianz sei es «offensichtlich gut gelungen, breite Bevölkerungskreise anzusprechen».
Auch «Der Bund» sieht in dem Abstimmungsergebnis einen Sieg der nicht-parlamentarischen Allianzen: «Bei der Gentechfrei-Initiative verbündeten sich Umweltschützer, Konsumentinnen und Bauernschaft zu einer technologie-skeptischen Mehrheits-Allianz.»
Bei den Sonntagsverkäufen bildeten laut dem Blatt die katholisch-konservativen Kreise zusammen mit den Gewerkschaften, den Linken und der Landbevölkerung eine Liberalisierugs-kritische Allianz.
Schwerer Stand für Swisscom-Liberalisierung
Der «Blick» verbindet die beiden Ja mit der Ankündigung des Bundesrates zum Verkauf der Swisscom-Mehrheit: «Die Swisscom-Privatisierung wird doppelt scheitern: An den Links-Liberalen in den Städten wie an den Konservativen auf dem Land. Denn in einem sind sich alle einig: Sie wollen die letzte grosse Schweizer High-Tech-Firma nicht ins Ausland verscherbeln.»
Auch die NZZ schliesst auf ein Präjudiz für den angekündigten Verkauf der Swisscom-Aktien: «Um ihn dem Publikum verständlich zu machen, braucht es viel Argumentationsarbeit an der Basis», rät das Blatt nach dem Urnengang vom Sonntag.
Widersprüche beim Gentech-Entscheid
Kontrovers bewertet wird das Ja zum Gentechmoratorium: Für den Zürcher «Tages Anzeiger» ist das Ja ein Startschuss für mehr Forschung über die Risiken der jungen Technologie: «Das fünfjährige Moratorium gewährt die nötige Zeit, um mehr Fakten zu gewinnen und so die Diskussion entkrampfen zu können».
Auch für den «Bund» ist das Verdikt nicht unbedingt ein Nein zur Gentechnologie: «Es ist aber ein Signal des Misstrauens an die Branche und als Auftrag an alle Involvierte zu verstehen, die noch offenen Fragen zu klären.»
Andere Blätter wie die «Neue Zürcher Zeitung» sehen im Ja ein negatives Signal: «Es dämpft die Dynamik des Forschungs- und Wirtschaftsstandortes.» So befürchtet sie, dass Gentech-Forscher und Investoren nun ins Ausland ausweichen könnten.
«Le Temps» spricht von einem Warnlicht: «Für die Forscher ist die Annahme des Moratoriums ein wichtiges Signal. Die Schweiz hat bisher immer eine solide Sympathie für die Forschung gezeigt.» Es brauche das Zusammengehen von verschiedenen Skeptikern, damit mit dieser Tradition in einer so klaren Mehrheit gebrochen werde.
swissinfo, Nicole Aeby
Ja zum Gentech-Moratorium: 55,7%
Ja zur Änderung des Arbeitsgesetzes: 50,6%
Stimmbeteiligung: 42%
Erste Vorlage:
Volksinitiative «für Lebensmittel aus gentechnikfreier Landwirtschaft».
In der Schweizer Landwirtschaft dürfen keine Pflanzen angebaut und keine Tiere gehalten werden, die gentechnisch verändert sind. Das Verbot gilt fünf Jahre lang.
Zweite Vorlage:
Änderung des Arbeitsgesetzes.
Geschäften in grösseren Bahnhöfen und in Flughäfen wird erlaubt, unabhängig von ihrem Warenangebot auch am Sonntag Personal zu beschäftigen.
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