Sinn ins Sprachen-Gewirr bringen
Es ist erstaunlich, dass sich die Schweizer untereinander verstehen. Es gibt nicht nur vier Landessprachen, sondern auch zahlreiche Dialekte. Über die Hälfte der Schweizerinnen und Schweizer reden anders, als sie schreiben.
Die Schweiz liegt im Schnittpunkt von drei grossen europäischen Kulturen – Deutschland, Frankreich, Italien. Die einzige Sprache, die wirklich ihre eigene ist, Rätoromanisch, wird von weniger als 0,5% der Bevölkerung gesprochen.
Die Deutschschweizer, die rund zwei Drittel der Bevölkerung ausmachen, sprechen eine Unmenge von verschiedenen Dialekten, die zwar untereinander verständlich, aber stark lokal gefärbt sind.
Die 35’000 Rätoromanisch sprechenden Schweizer sprechen in fünf «Idiomen», wobei jedes einzelne seine eigenen Dialekte hat. In einigen Regionen des italienischsprachigen Kantons Tessin gibt es sprachliche Unterschiede von einem Dorf zum anderen.
Sprache ist für die Schweizer ein endlos faszinierendes Thema. Das Deutschschweizer Radio DRS hat eine populäre Sendung über Mundart, Schnabelweid. Hörerinnen und Hörer können dabei Fragen über Bedeutung und Herkunft von Dialektwörtern stellen.
In der rätoromanischen Radiosendung Da Num e da Pum wird die Herkunft von Namen erforscht, und das Radio der italienischsprachigen Schweiz spricht in seiner Sendung La domenica popolare viel über Dialekte des Tessins und der angrenzenden Regionen in Italien. Intré-No ist eine wöchentliche Sendung eines Freiburger Privatradios in Patois.
Eine neue Ausstellung in der Landesbibliothek in Bern mit dem Titel «Sapperlot! Mundarten der Schweiz» wirft einen eingehenden Blick auf die Sprachenlandschaft des Landes.
Im Zentrum der Ausstellung steht eine Toninstallation mit Aufnahmen aus allen vier Sprachregionen. Die historischen Tondokumente stammen aus dem Phonogrammarchiv der Universität Zürich. Ferner stützt sich die Ausstellung auf die Archive der vier grossen Schweizer Wörterbücher und auf Dokumente der Landesbibliothek selbst.
«Die Hälfte der Tonaufnahmen ist historisch, die andere Hälfte zeitgenössisch. Wir wollten ein farbiges Potpourri», sagt Co-Kurator Peter Erismann gegenüber swissinfo.ch.
Von See zu See
Auf dem Boden des Ausstellungsgebäudes liegt ein Teppich, der die Schweiz darstellt. Aufgrund der ausgeschnittenen Seen können sich die Besucher selber orientieren.
Wenn man beim Zürichsee steht, kann man Beispiele von lokalen Dialekten anhören: Eine Frau, die das Schlachten eines Schweines in den 1950er-Jahren beschreibt, Jugendliche, die 2009 über das «Jugendwort des Jahres» diskutieren, «sbeschtwosjehetsgits», was wörtlich «das Beste, was es je gab» oder «phantastisch» heisst. Es ist nicht grammatikalisch, ein Beispiel von «Jugo-Slang», der bei Schweizer Jugendlichen beliebt ist als Parodie auf die Sprache, welche die jungen Immigranten aus dem Balkan in der Schweiz sprechen.
Wenn man beim Kanton Aargau steht, kann man Pferdehändler hören – aufgenommen 1961 –, die den heute ausgestorbenen Yiddisch-Dialekt sprechen, der sich in zwei kleinen Dörfern im Surbtal entwickelte, wo die winzig kleine Jüdische Gemeinschaft früher abgegrenzt lebte.
Oder man kann Umwelt-und Energieministerin Doris Leuthard zuhören, wie sie 2011 in ihrem Aargauer Dialekt über die Zukunft der Atomkraft spricht.
Am Luganersee sind verschiedene Tessiner Dialekte zu hören, darunter die älteste Aufnahme der ganzen Ausstellung aus dem Jahr 1913, die «Parabel des verlorenen Sohnes», oder die 2011-Version von «Some Like it Hot», vorgetragen mit Marilyn-Monroe-Touch direkt aus einem abgelegenen Tessiner Dorf.
Zwischen diesen Punkten gibt es noch 13 Audio-Stationen mit 40 Beispielen von Schweizer Dialekten aus dem ganzen Land und aus fast einem Jahrhundert. Es sind Lesungen, Erzählungen und Gespräche, vorgetragen von Bauern, Dichtern und Politikern.
Tonarchiv
Dass die Archivaufnahme von 1913 eher kratzt, überrascht nicht: Die Ausstellung zeigt auch Aufnahmegeräte aus allen Zeitaltern. Das älteste Gerät hatte eine trichterförmige Trompete, in welche die Person hineinsprach, der Ton wurde von einer Nadel auf eine Wachsplatte übertragen.
Diese alten Maschinen waren derart sperrig, dass man mit ihnen nicht zum Sprecher gehen konnte, sondern der Sprecher zu ihnen kommen musste. Was Forschende aber nicht davon abhielt, Tondokumente aus der ganzen Schweiz zusammenzutragen.
«Obwohl das Phonogrammarchiv an der Universität Zürich ist, hatte es immer einen nationalen Fokus», sagt der zweite Co-Kurator Michael Schwarzenbach gegenüber swissinfo.ch.
«Es war grundsätzlich eine Forschungsarbeit, Dialekte zu sammeln, als Tonaufnahmen möglich wurden. Das ist die einzige Möglichkeit, um eine Sprache wirklich zu dokumentieren.»
Mehr
Vielsprachigkeit
Wörterbücher
Doch Interesse am Dialekt gab es schon vor der Erfindung des Phonographs, auch wenn damals die Worte lediglich phonetisch aufgezeichnet werden konnten. Das Schweizerdeutsche Wörterbuch wurde 1862 – nicht überraschend – als erstes nationales Wörterbuch lanciert.
«Im 19. Jahrhundert war der deutsche Einfluss ziemlich stark, und man hatte das Gefühl, dass diese lebendige Tradition bewahrt werden müsse», sagt Co-Kurator Erismann.
Beispiele von Karteikästchen mit Papierzetteln zeigen dies, auf denen die Feldforscher ziemlich genau die Wörter aufzeichneten, die sie gesammelt hatten.
«Wenn man in die Büros der Wörterbuch-Herausgeber geht, sieht man ganze Räume voller solcher Karteikästchen, welche die Grundlage bilden, auf der die Bände zusammengestellt werden», so Erismann.
Lebendige Sprache
Die Schweizerischen Wörterbücher sind bei weitem nicht die einzigen gedruckten Ausstellungswerke. Gezeigt werden auch regionale Wörterbücher oder Grammatiken und Forschungsmagazine sowie Dialektliteratur, Liedersammlungen und Kinderbücher.
«Die Dialekte in der Schweiz sind ein grosser Teil der Identität der Bevölkerung dieses Landes», sagt Erismann. «Die Deutschschweizer ihrerseits haben zwei verschiedene Formen, sich auszudrücken: einerseits die gesprochene, andererseits die schriftliche Sprache. Das ist für mich ein Glücksfall. Es wäre falsch, sich in den Dialekt zurückzuziehen. Wir müssen offen sein und beide Formen wertschätzen.»
Co-Kurator Schwarzenbach, der aus dem italienischsprachigen Lugano kommt, bedauert seinerseits, dass im Tessin Dialekte schwächer sind. «Aber die Leute sind sehr daran interessiert. Das Vocabulario, das Wörterbuch der italienischsprachigen Schweiz, ist sehr populär.»
Der Dialekt ist nicht tot, ebenso wenig die Dialekt-Forschung. Besucher der Ausstellung in Bern sowie auch Leute zu Hause können ihren eigenen Beitrag dazu machen. Eine interaktive Station, die es auch online gibt, lädt die Leute ein, spezifische Beispiele ihrer eigenen gesprochenen Sprache aufzunehmen, die dann von Sprachexperten analysiert werden.
Auch wenn die Ausstellung «Sapperlot! Mundarten der Schweiz» in der Landesbibliothek in Bern erst seit dem 8. März eröffnet ist, sind die Resultate der Stimmaufnahmen bereits ein Ohrenschmaus.
Die Ausstellung «Sapperlot! Mundarten der Schweiz» dauert noch bis am 25. August.
Sie ist während der Öffnungszeiten der Bibliothek geöffnet.
Ein Rahmenprogramm offeriert abendliche Lesungen und Diskussionen.
Gratiseintritt.
Wissenschaftliche Wörterbücher gibt es für alle vier Mundarten in der Schweiz:
Für schweizerdeutsche Dialekte das Schweizerische Idiotikon, für französisches Patois das Glossaire des patois de la Suisse romande (GPSR), für Tessiner Dialekte das Vocabulario dei dialetti della Svizzera italiana (VSI) und für Rätoromanisch der Dicziunari rumantsch grischun (DRG).
Weil die Arbeit langsam voranschreitet, wird sie jeweils in Form von Heften publiziert. Diese werden dann zu Büchern gebunden.
Ein Idiotikon wurde erstmals 1862 vorgeschlagen. Der erste Band mit A erschien 1881. Rund 130 Jahre später ist man bei Z angelangt. Das Werk sollte 2022 abgeschlossen sein.
Das GPSR wurde 1899 begonnen. Zur Zeit ist man bei den Buchstaben F und G.
Das Tessiner Vocabulario ist noch etwas in Verzug: 1907 begann man mit A, heute ist man bei C.
Am rätoromanischen DRG arbeitet man seit 1904 – heute ist man beim Buchstaben M angelangt.
Die viersprachige Ausstellung hat auch eine viersprachige Bezeichnung:
Deutsch: Sapperlot!
Französisch: Sacredouble!
Italienisch: Sacarlòtu!
Rätoromanisch: Sapperlottas!
Es handelt sich um ein – harmloses – Schimpfwort mit heute leicht archaischem Unterton. Es drückt Erstaunen sowohl im positiven als auch im negativen Sinn aus.
Auf Schweizerdeutsch existieren verschiedene Versionen, zum Beispiel Sappermänt, Sackerlänt, Safferemänt, Sapperemost. Es gibt auch Kombinationen wie Potz Sapperlot! oder Sapperlot abenand!
(Übertragung aus dem Englischen: Jean-Michel Berthoud)
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch