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Spät nachts, wenn über dem Nil der Halbmond scheint

Susanne Schanda

Das arabische Versepos "Sira Hilali" um den Helden Abu Zaid ist für Ägypten, was Wilhelm Tell für die Schweiz. Er lebt in der heutigen Alltagskultur weiter. Ein schweizerisch-ägyptisches Filmteam macht sich auf die Spuren eines alten Helden und seiner Nachfahren.

Am Vormittag hat der amerikanische Präsident Barack Obama in Kairo seine Rede an die arabische Welt gehalten.

Nur wenige Stunden später ist die mit abgetretenen Teppichen belegte Holzbühne im südägyptischen Ort Esna bereit für den Auftritt eines alten Mannes, der weder lesen noch schreiben kann.

Sayyed el-Dawwy ist der letzte grosse Interpret, der das Hilali-Epos aus dem 12. Jahrhundert mit Tausenden von Versen auswendig vortragen, improvisieren und aktuelle Ereignisse in seinen Vortrag einbauen kann.

Begleitet wird er von sechs Musikern auf traditionellen orientalischen Instrumenten wie Duff (Rahmentrommel) und Rababa (Saiteninstrument).

Der ganze Ort scheint auf den Beinen, Männer in langen traditionellen Gewändern und Turbanen, Kinder in abgetragenen, bunt zusammen gewürfelten Kleidern; Jugendliche knattern zu zweit oder dritt auf einem Moped über den staubigen Lehmboden, und hin und wieder taucht eine Frau auf, eingehüllt in lange Gewänder und Tücher, die vor Blicken und der Sonne schützen.

Es ist weit über 40 Grad. Der Auftritt verzögert sich. Nach Stunden der Vorbereitung ist das hochempfindliche Tonaufnahmegerät aus der Schweiz der Hitze erlegen.

Jetzt wird gebetet

Hektik kommt auf. Ventilatoren werden herangeschafft. Eine halbe Stunde, das Gerät läuft wieder. Doch jetzt ist die Zeit des Abendgebets. Der 77-jährige Sayyed el-Dawwy ist ein religiöser Mann, der keines der fünf täglichen Gebete auslässt.

Auch sein Vortrag der «Sira Hilali» (Epos um den Stamm des Halbmonds und ihres Helden Abu Zaid) ist ihm ein göttlicher Auftrag. Es ist 23 Uhr, als er, gestützt von seinem Enkel Ramadan, schliesslich auf die Bühne zu seinen Mitmusikern steigt.

Doch bevor der alte Mann nun mit dem religiösen Intro seines Vortrags beginnt, begrüsst er die Anwesenden und sagt ein paar wohlwollende Worte zum Ägypten-Besuch des amerikanischen Präsidenten, der schwarz ist, wie Abu Zaid und durchaus zu einem Helden der Araber werden könnte.

Das Filmteam hat hier in Esna drei Kameras im Einsatz. Kameramann Peter Liechti («Namibia Crossings») nimmt die Bühne ins Visier. Ahmed Abdel Mohsen filmt Szenen im Publikum und Sandra Gysi steigt mit ihrer Kamera auf eines der Hausdächer, wo sich die Frauen, etwas entfernt vom Geschehen, einen Logenplatz eingerichtet haben, von dem sie auf die Bühne sehen.

Aktualität verwoben

«Das fasziniert mich an diesen musikalisch begleiteten Vorträgen des Epos, dass aktuelle Ereignisse, manchmal aus der Tagespolitik, eingeflochten und mit der Geschichte aus dem 12. Jahrhundert in Verbindung gesetzt werden», sagt die Schweizer Filmemacherin Sandra Gysi.

Zusammen mit dem Ägypter Ahmed Abdel Mohsen, der die Filmschule F+F in Zürich absolviert hat, zeichnet sie für den Dokumentarfilm über die «Sira Hilali» verantwortlich und führt Regie.

«Umgekehrt werden Verse und Namen aus dem Epos noch heute in Alltagsgesprächen zitiert, um so dem Gesagten Nachdruck zu verleihen», ergänzt sie. Ausserdem wurde der Stoff kürzlich als Soap-Opera aufbereitet und der Popstar Mohammed Mounir hat eine der Geschichten zu einem Song verarbeitet.

Familientradition am Ende?

Der Auftritt in Esna am Nil markiert einen der Höhepunkte des Dokumentarfilms «Wenn der Halbmond spricht…». Es wird aber auch in Kairo, im Heimatdorf Sayyed el-Dawwys bei Qus und im Zug von Luxor nach Kairo gefilmt.

Im Zentrum stehen der alte Sayyed el-Dawwy und sein 24-jähriger Enkel Ramadan. An diesen möchte der alte Meister seine Kunst und die immense Menge von Versen weitergeben.

«Das Überliefern von Traditionen innerhalb der Familie ist in Ägypten noch heute weit verbreitet», sagt Ahmed Abdel Mohsen, der in Südägypten mit den Geschichten des Hilali-Epos aufwuchs und sich als Kind immer wünschte, Pferd und Schwert wie Abu Zaid zu besitzen.

«Ramadan sieht es zwar als seine Pflicht, die Tradition von seinem Grossvater weiterzuführen, aber er tut dies nur halbherzig. Er möchte lieber seine eigene Musik machen oder Volksmusik modernisieren», sagt Ahmed Abdel Mohsen.

«Dieser Widerspruch zwischen individuellen Wünschen und den Erwartungen des Familienkollektivs ist ein wichtiges Thema unseres Films.» Zudem werde das Bild des Helden hinterfragt, mit modernen Heldenbildern konfrontiert und die Abwesenheit der Frauen beleuchtet.

Mani Matter lässt grüssen

Gysi, die seit 15 Jahren regelmässig nach Ägypten reist und teilweise dort lebt, hat ihr Studium mit einer Lizentiatsarbeit über populäre Künstler Kairos abgeschlossen.

Als sie 2003 einen Dokumentarfilm über den ägyptischen Künstler Salah Hassouna drehte, kam sie durch seine Bilder zum ersten Mal mit dem Hilali-Epos in Berührung.

«Die grosse Fähigkeit zu rezitieren hat mich im arabischen Raum schon immer sehr beeindruckt. Und als ich sah, wie das Publikum beim Vortrag begeistert mitgeht, fühlte ich mich plötzlich an Mani Matter und sein ‹Si hei dr Wilhelm Tell ufgführt im Löie z’Nottiswil› erinnert», sagt die Filmemacherin.

Susanne Schanda, Esna (Ägypten), swissinfo.ch

Die mündlich überlieferten Geschichten in Versform aus dem 12. Jahrhundert erzählen vom arabischen Volksstamm der Hilal (Halbmond) aus Jemen.

Wegen einer Hungersnot zieht das Wüstenvolk über die arabische Halbinsel und Ägypten bis Tunesien und kämpft unterwegs manche Schlacht.

Der Held des Epos ist der dunkelhäutige Abu Zaid, dessen Zeugung ein Mythos ist: Am Wunschsee erbittet sich seine Mutter einen Sohn, der so stark sein soll wie der schwarze Vogel, der über ihr kreist.

Als sie schliesslich ein schwarzes Kind zur Welt bringt, bezichtigt ihr Mann, ein Prinz der Hilali, sie des Ehebruchs mit einem Sklaven und verstösst sie mit ihrem Kind aus seinem Stamm.

Sandra Gysi, 1969 in Aarau geboren. Nach dem Studium der Ethnologie, Filmwissenschaft und Germanistik realisierte sie u.a. folgende Filme: «Madson Junior – Kinderstar in Afrika», «Aufbruch unter dem Morgenstern, ein Fest bei den Dani auf West Papua».

Ahmed Abdel Mohsen, 1974 in Assuan, Ägypten geboren. Studium der Medienwissenschaften. Arbeit im Tourismus. Absolvent der Filmschule F+F in Zürich. Filme: «In Between» und «Fragments of Paradise» und zusammen mit Sandra Gysi «Away to God» über Heiligenfeste in Ägypten.

Neben dem Kameramann Peter Liechti und dem Tonmann Ramon Orza sind mehrere lokale Assistenten im Einsatz.

Produziert wird «Wenn der Halbmond spricht…», der Anfang 2010 fertig werden soll, von der Zürcher Firma Reck-Filmproduktion. Das Budget beträgt rund eine halbe Million Franken.

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