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Spiel mit der Realität als Lebenswerk

Rosalie Schweiker nahm einen gewöhnlichen Stein und nennt ihn ihren Stein der Weisheit, um ihm mehr Bedeutung zu verschaffen. swissinfo.ch

Das Studio von Rosalie Schweiker befindet sich im Süden Londons in einer umgebauten Garage am Ende einer Strasse, wo sich früher Stallungen befanden. Simple Möbel teilen sich den Platz mit Figuren, Batiksocken und Töpfen mit Avocado-Pflanzen, welche die Schweizer Kunstschaffende selber gezogen hat.

Schweiker wurde 1989 als zweite von vier Töchtern in Zürich geboren. Ihr Vater war Ingenieur, ihre Mutter Landschaftsgärtnerin. Kurz bevor Rosalie ins Schulalter kam, zog die Familie wegen der Arbeit des Vaters nach Heilbronn in Baden-Württemberg.

Hier drängt sich der Hinweis auf einen Haftungsausschluss auf: Schweiker verschmäht konventionelle biografische Angaben zu Alter, Bildung und Karriere. Sie betrachtet diese als bewegliche Feiertage. Und stellt persönliche Angaben bewusst auf Wikipedia ins Netz, wo sie von jeder und jedem verändert werden können. Was hier folgt, ist also EINE Version von Schweikers Geschichte, aber keinesfalls die einzige Schilderung.

«Für viele Kunstschaffende ist die Frage der Kontrolle sehr wichtig», sagt sie. «Ich versuche, Mechanismen wie Wiki zu finden, wo ich Kontrolle und Autorenschaft aufgeben kann.»

«Ich finde es ziemlich lächerlich, wie die Kunstwelt in vielerlei Hinsicht funktioniert», fügt Schweiker hinzu. «So viel fusst auf der Frage, welches College man besucht hat, und alles dreht sich um solch symbolische Dinge.»

«Ich versuche, das zu untergraben. Wenn jemand mit mir arbeiten will, will ich, dass sie wegen dem, was ich tue, mit mir arbeiten.»

«Wieso würde es mein Werk verändern, wenn Sie wüssten, dass ich 2003 geboren bin? Und gleich verhält es sich mit der Frage, wo man geboren ist und woher man kommt.» Jede Künstlerin, jeder Künstler könne ihre, seine Lebensgeschichte erzählen. «Ich denke, es ist produktiver, mit diesen Dingen spielerischer umzugehen.»

Partizipation

«Spielerisch» gehört zu jenen Worten, die in Schweikers Vokabular einen prominenten Platz einnehmen, ebenso wie «soziales Engagement» und «Partizipation». Die gebürtige Schweizerin organisiert Konferenzen, bei denen es darum geht, wie man sich mit Hilfe von Kartoffeln etwas zusammenreimen kann, oder welche Lehren aus Avocados gezogen werden können. Und sie vergibt Preise an sich selbst.

Sie findet, Mitwirkung sei wichtig, wenn so viele Leute über ihre Laptops gebeugt seien und sich nicht unbedingt von Angesicht zu Angesicht träfen.

«Viel von dem, was ich heute tue, schafft Situationen, in denen die Leute tatsächlich Hallo zueinander sagen können. Es geht darum, irgendwo zu sein und zu fühlen, dass man auch zu einem Ort und zu einer Gruppe von Menschen gehört.»

«Ich schaffe Situationen und Kontexte, in denen Dinge passieren, die normalerweise nicht passieren würden. Ich schaffe Strukturen, in denen sich Leute treffen, die sich nie zuvor gesehen haben, wo es Austausch geben kann, der sonst nicht stattfinden würde.»

«Wenn ich etwas tue, und die Leute dann lachen, bin ich wirklich glücklich. In Kunstgalerien hört man nicht eben viel Gelächter.»

Rosalie Schweiker

Ich schaffe Situationen und Kontexte, in denen Dinge passieren, die normalerweise nicht passieren würden.

Nomadin

Schweiker machte ihren Bachelor-Abschluss am Darting College of Art, ihren Master am Camberwell College of Art in London.

Im Verlauf ihrer noch jungen Karriere hatte sie Aufenthalte in Künstlerateliers in Finnland, Deutschland und Singapur.

Der Entscheid, in London zu bleiben, fiel vor allem, weil sie ein Angebot für ein kostenloses Studio von Space Station Sixty-Five erhielt, einem von Künstlern betriebenen Kunstraum. Sie kann drei Jahre dort bleiben, bis 2015.

Schweiker sagt, sie fühle sich nicht besonders verbunden mit einem bestimmten Land, habe aber jüngst die Rückkehren in die Schweiz genossen, wo sie unter anderem in einem Austausch an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich lehrte und in Bern eine Ausstellung hatte.

«Ich fühle mich nicht wirklich als Schweizerin. Aber auch nicht als Britin. Ich glaube nicht, dass dies noch wirklich eine grosse Rolle spielt.»

Kunst, sagt sie, sollte solche Kategorien und Stereotypen herausfordern.

«Es ist dasselbe wie mit Männern und Frauen, und wie sich das immer noch auswirkt. Ich habe Dinge unter verschiedenem Namen als Mann gemacht – und dies wird anders wahrgenommen.»

«Es ist anders, wenn ich nur den Familiennamen verwende und die Leute nicht wissen, was mein Geschlecht ist. Das wirkt sich darauf aus, was sie von meinem Werk halten.»

«Ein Objekt zu nehmen und ihm einen anderen Namen zu geben, erlaubt es, ihm andere Eigenschaften zuzuschreiben.» Rosalie Schweiker

Kampf ums Einkommen

Wie viele junge Kunstschaffende muss Schweiker kämpfen, um über die Runden zu kommen. Um ihr Einkommen zu verbessern, verkauft sie Blumen, liest Tarot-Karten, lehrt an Kunstschulen und organisiert Veranstaltungen. Ihre Website erzählt eine etwas andere Geschichte.

«Ich verdiene ein Vermögen mit dem Lesen von Tarot-Karten», heisst es dort. Und: «Seit 2008 habe ich meine Arbeit auch mit einem profitablen Sex-Shop subventioniert.»

«Eine Kollegin und ich sagen oft im Scherz, dass wir Kunst für Blinde machen», erklärt Schweiker. «Weil unser Werk aus Beschreibungen, Geschichten und Gerüchten besteht statt aus visuellem Material.»

«In der traditionellen Kunst kommuniziert man oft durch Objekte. Man kann etwas nicht verbal ausdrücken – und versucht, es visuell darzustellen. Und wenn es dann hoffentlich gesehen wird, hat die betroffene Person auch eine gewisse Reaktion darauf.»

«Wir spielen mit der Realität. Wir versuchen nicht, Materialien wie Holz oder Bronze zu manipulieren. Stattdessen manipulieren wir in gewisser Weise Situationen.»

Rosalie Schweiker

Ich denke, es ist Kunst, wenn Leute über etwas stolpern und überrascht sind. Der Moment, in dem sie sich fragen ‹wieso tut sie das, was ist der Sinn?› Irgendwie ist es diese Verwirrung, die man schaffen will, die für mich wirklich wichtig ist.

Stein der Weisheit

Der Stein der Weisheit nimmt in ihrem Studio einen Ehrenplatz ein. Es ist ein mit Glitzer überzogener Stein, mit der Botschaft: «Wenn Sie nicht verstehen, worum dies alles geht, berühren Sie den Stein der Weisheit. Alles wird klar werden.»

Sie beschreibt diesen Stein als ihr Aushängeschild: Sie nimmt etwas Normales, gibt ihm einen anderen Namen und damit andere Qualitäten.

«Der Stein der Weisheit ist meine Interpretation der Idee, dass Kunst immer erklärt werden muss, dass man einem Objekt mehr Bedeutung verschafft, indem man es hochredet.»

Ideen, Streiche, Konversationen. Dies sind die immateriellen Formen von Schweikers Werk.

«Was ist der Zweck dieser Sache mit der Kunst?», fragt sie. «Es ist, dass man Leute dazu bringen will, anders zu denken.»

«Ich denke, es ist Kunst, wenn Leute über etwas stolpern und überrascht sind. Der Moment, in dem sie sich fragen ‹wieso tut sie das, was ist der Sinn?› Irgendwie ist es diese Verwirrung, die man schaffen will, die für mich wirklich wichtig ist.»

Sie möchte, dass ihre Kunst in einfacher Sprache beschrieben wird, und dass ihr Werk nützlich ist und relevant für ihre lokale Gemeinschaft.

«Ich mag langfristige Projekte», sagt sie. «Ich halte nicht viel von Kunstschaffenden, die wie an einem Fallschirm irgendwo landen und einfach etwas tun. Ich mag es, wenn sich Dinge über einen längeren Zeitraum entwickeln.»

Bevor ich mich verabschiede, kann ich es nicht lassen, sie zu fragen, was es mit der Avocado-Obsession auf sich hat.

«Avocados sehen lange Zeit ziemlich eklig aus», sagt sie. «Sie werden schimmlig, und du willst sie wegwerfen, doch du tust es nicht, weil du an sie glaubst. Und dann plötzlich spriessen sie – und das ist ähnlich wie mit Kunstschaffenden und ihren Ideen. Du hast all diese kleinen Töpfe, in die du deine Avocado-Kerne oder Ideen steckst und sie etwas schimmlig werden lässt. Einige davon werden spriessen, andere tun es nicht.»

Schweiker gibt mir ihre Visitenkarte. Ich schaue sie nicht im Detail an, bis ich zu Hause bin. Das Angebot ist unwiderstehlich:

Die Künstlerin Rosalie Schweiker ist bereit zu einem Arbeitsplatz-Austausch mit Ihnen für einen beliebigen Zeitraum. Für weitere Abklärungen, schicken Sie bitte eine E-Mail an: Rosalie.Schweiker@gmail.com.

Ich denke, es war für mich von grossem Vorteil, dass ich eine Schweizer Künstlerin bin. Das hat mir viele Türen geöffnet und Möglichkeiten geboten, die mir sonst verschlossen geblieben wären.

 

Weil ich jetzt bereits während längerer Zeit im Ausland lebe, finde ich es aber vermutlich komisch, von etwas zu profitieren, für das ich nie etwas getan habe. Schliesslich wählt niemand aus, wo er geboren wird.

 

Daher hinterlässt die Tatsache, Schweizerin zu sein, bei mir manchmal das Gefühl, vom Glück getroffen zu sein, «a very lucky bastard», wie man hier sagt.

 

Sagt: Rosalie Schweiker

Geboren: 26. September 1989 in Zürich

1995/96: Umzug der Familie nach Heilbronn, Deutschland

2007: Bachelorstudium Dartington College of Arts, Devon, GB

2010: Masterstudium Camberwell College of Art, London

2012-15: Studio in Tulse Hill, Südlondon

(Übertragung aus dem Englischen: Rita Emch)

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