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Dr. No in Bern: Als die Schweiz zum Spionagezentrum Chinas wurde

Trachtenfrauen aus der Schweiz und China
Die Schweiz nahm bereits 1950 diplomatische Beziehungen mit der Volksrepublik China auf. Foto einer Szene an der Messe Comptoir Suisse von 1958, wo China Gastland war. Keystone / Joe Widmer

In den 1960ern wurde Bern zum Zentrum der chinesischen Spionage. Der Schweizer Geheimdienst blieb machtlos – auch weil die Beamten Chines:innen nicht so recht unterscheiden konnte.

«Bern: das Spionagezentrum von Rotchina in Europa», «Rotchinesische Diplomaten trainieren in der Schweiz.» In diese Kerbe schlugen in den 1960er-Jahren Hunderte von Schlagzeilen auf der ganzen Welt. Doch die offizielle Schweiz dementierte die Darstellungen lange.

Noch 1965 liess die Staatsanwaltschaft verlauten, das «Märchen» von einer chinesische Agentenschule in der Schweiz sei wohl vom James-Bond-Film «Goldfinger» inspiriert worden.

Akten aus dem Bundesarchiv zeigen jedoch ein anderes Bild: Chinesische Geheimagent:innen bauten in den 1950er- und 1960er-Jahren Dutzende von internationalen Spionagenetzwerken auf – von der Schweiz aus.

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Wie konnte die Schweiz eine Schaltzentrale der chinesischen Spionage werden?

Attraktiv für Spione

Einerseits ging die Schweiz mit der Volksrepublik China früh diplomatische Beziehungen ein, wie die Niederlande und die skandinavischen Länder. Doch Bern war für geheime Meetings verkehrstechnisch besser gelegen als Amsterdam oder Oslo.

Andererseits unterhielt die Schweiz als neutrales Land, das sich als Vermittlerin in Konflikten etablieren wollte, mit möglichst vielen Ländern diplomatische Beziehungen. Tausende Diplomat:innen reisten jährlich zur UNO und weiteren internationalen Organisationen in Genf. Hier konnte man Delegationen und Einzelpersonen aus der ganzen Welt ausspionieren.

Günstig war auch, dass das Mandat der Schweizer Spionageabwehr sehr eng definiert war. Die Bundesanwaltschaft und Bundespolizei hatten nur gegen Personen und Organisationen vorzugehen, welche die innere und äussere Sicherheit der Schweiz gefährdeten. Kurz: Das Ausspionieren von Ausländer:innen in der Schweiz war nicht illegal.

Die chinesische Botschaft und das Generalkonsulat in Genf beschäftigten in den 1950er- und 1960er-Jahren zusammen bis zu hundert Mitarbeiter:innen.

Bundesrat Max Petitpierre rechtfertigte die enorme Anzahl an chinesischen Beamteten in der Schweiz im Parlament 1957 damit, dass China von der Schweiz aus wirtschaftliche, kulturelle und politische Kontakte mit zahlreichen westeuropäischen Ländern unterhielt und in der Schweiz auch Diplomat:innen ausbildete.

Bundesrat trinkt mit chinesischer Delegation Wein
Aussenminister Max Petitpierre knüpft an der Indochinakonferenz in Bern 1954 erste Kontakte zur Führungsriege der Volksrepublik China. Keystone / Str

Es war nicht so, dass man kein wachsames Auge auf Spion:innen aus kommunistischen Ländern hatte: In einem Bericht des Departements für Aussenpolitik von 1963 wurden 20 Tschechoslowaken, sechs Sowjetrussen, sechs Ungarn, drei Polen, zwei Rumänen, zwei Jugoslawen und ein Bulgare als Verdächtige aufgelistet. Doch kein einziger Chinese und keine Chinesin.

Im selben Jahr gab das Amt zu, dass man trotz Verdachtsmomenten auf Massnahmen gegen die chinesische Botschaft verzichte – «im Interesse der Aufrechterhaltung normaler Beziehungen mit China».

Schnüffeln gegen Taiwan

Heute ist klar: Etliche chinesische Diplomat:innen waren auch Spione. Sogar der erste Botschafter Chinas in der Schweiz, Feng Xuan, entpuppte sich als hochrangiger Geheimagent, der die Schweiz als Drehscheibe der chinesischen Spionage in Europa mitaufbaute.

Als er 1959 nach China zurückkehrte, wurde er stellvertretender Direktor der Zentralen Ermittlungsabteilung, dem heutigen Ministerium für Staatssicherheit. 1966 schrieb die Bundespolizei, Feng sei “einer der wichtigsten Leiter des chinesischen Nachrichtendienstes in Westeuropa” gewesen.

Eine zentrale Rolle spielten auch taiwanesische Diplomat:innen. Für China war Taiwan eine abtrünnige Provinz, die früher oder später wieder in die Volksrepublik eingegliedert werden sollte. Viele taiwanesische Diplomat:innen konnten zur Kollaboration erpresst werden, weil sie Verwandte in der Volksrepublik China hatten.

Dabei wurden nicht immer nur schmale Aktenkoffer übergeben: In einem Fall brachte ein taiwanesischer Übersetzer in New York so viele UNO-Dokumente mit, dass ein Taxi gerufen werden musste, damit die Dokumente überhaupt ins chinesische Konsulat transportiert werden konnten.

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Die Beteiligung ging bis in die höchsten Ränge: 1966 wurde Guo Youshou, der Kulturattaché der taiwanesischen Botschaft in Brüssel, verhaftet. Guo war regelmässiger Gast an Unesco-Konferenzen in Genf – in doppelter Funktion: 1954 war er in der Schweiz vom chinesischen Botschafter Feng Xuan höchstpersönlich rekrutiert worden.

Zwölf Jahre lang lieferte er China Informationen über Taiwan und mehr als hundert taiwanesische Diplomat:innen, Expats und Tourist:innen – für insgesamt rund 40’000 US-Dollar. Seine diplomatische Immunität bewahrte ihn vor rechtlichen Konsequenzen.

Guo und seine Kontakte in der chinesischen Botschaft wurden aber des Landes verwiesen. Dies geschah in aller Diskretion – um die guten Beziehungen zu China nicht zu gefährden, wurden der Presse keinerlei Namen oder Gründe für die Massnahmen genannt.

Da China dringend westliches Knowhow und Technologien benötigte, heuerten chinesische «Diplomat:innen» auch zahlreiche chinesisch-stämmige Forschende und Studierende in ganz Europa an.

Neben der Diplomatie bot auch der Journalismus ein willkommenes Cover-Up: Manche Nachrichtendienstmitarbeiter:innen arbeiteten für die staatliche Nachrichtenagentur Xinhua, die von der Bundespolizei als «treibende Kraft des chinesischen Nachrichtendienstes in Westeuropa» beschrieben wurde: «Seine zentrale Lage erlaubt es ihm, die von der gesamten westlichen Welt eingehenden Meldungen in Paris zu koordinieren und dann über Bern und Genf nach Peking weiterzuleiten.»

Ermittlungsschwierigkeiten

1967 wurden von den knapp hundert chinesischen Beamt:innen in der Schweiz 30 verdächtigt, Agent:innen zu sein. Bei weiteren 30 wurde angenommen, dass sie nachrichtendienstliche Aufgaben hatten. Die Schweizer Spionageabwehr sah ihrem Wirken in Bern und Genf natürlich nicht tatenlos zu: Telefonate wurden abgehört, Diplomat:innen beschattet und Besucher:innen wenn immer möglich identifiziert und untersucht.

Man arbeitete auch mit der CIA und Interpol zusammen – mit wenig Erfolg. Die grosse Menge an chinesischen Diplomat:innen schien nicht zu bewältigen. Schon 1955 stand in einem Bericht der Schweizer Bundesanwaltschaft: «Es ist fast unmöglich, die Chinesen voneinander zu unterscheiden, da sie sich alle sehr ähnlich sehen.»

In der Tat verliefen zahlreiche Versuche, die Aktivitäten mutmasslicher chinesischer Spione nachzuverfolgen, im Sand, weil die Schweizer Zeug:innen schlicht nicht im Stande waren, Chines:innen eindeutig zu identifizieren.

Aus den gleichen Gründen hielt man auch die kommunistischen Umtriebe der Chinesen für wenig gefährlich: Chinesische Subversion in der Schweiz, so meinte der Generalsekretär des Politischen Departements 1964, sei kein grosses Problem: «Schon wegen ihrer Hautfarbe können die Chinesen jederzeit unter Kontrolle gehalten werden.“

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Da die Bundespolizei nicht gut genug dotiert war, führten lokale Polizisten Beschattungen von mutmasslichen chinesischen Spioninnen und Kollaborateuren aus. Immer wieder wurden diese Beschattungen abgebrochen – wegen Personalmangel, schlechtem Wetter, Verwirrung durch Einbahnstrassen oder weil die verdächtige Person in einen Zug eingestiegen war. Die kontaktierten Polizisten am vermeintlichen Zielort warteten meist vergebens auf dem Perron – die Verdächtigen hatten sich auf der Fahrt in Luft aufgelöst.

Doch auch wenn einem Diplomaten oder einer Diplomatin Spionage nachgewiesen werden konnte, hatte er oder sie selten Massnahmen zu befürchten: Jede Massnahme drohte nämlich Vergeltungsaktionen in China gegen Schweizer Diplomat:innen und Schweizer Unternehmen zur Folge zu haben.

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