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Sprachenstreit flackert in Graubünden wieder auf

Rumantsch Grischun für ABC-Schützen: Nicht alle Bündner können sich mit diesem Entscheid anfreunden. Keystone

Das sprachliche "Kunstprodukt" Rumantsch Grischun sorgt erneut für Zündstoff: Es soll 2005 Einzug in die Bündner Schulstuben halten.

Kritiker befürchten, dies könnte der Untergang der fünf rätoromanischen Idiome bedeuten.

Auf dem Papier sieht alles so einfach aus: Rumantsch Grischun ist die einheitliche Schriftsprache der Rätoromanen im Kanton Graubünden. In der Realität aber ist alles, wie so oft, ein wenig komplizierter.

Bot schon die Einführung in den 80er-Jahren den Rahmen zu einem lokalen Kulturkampf im Bergkanton, so sorgt jetzt der Beschluss, die Bündner ABC-Schützen auf Rumantsch Grischun loszulassen, für ein Wiederaufflackern des Zwists.

Ist es der letzte Kampf oder nicht? So absolut lässt der Bündner Regierungsrat Claudio Lardi die Frage nicht stehen. Die Einführung des Rumantsch Grischun in den Primarschulen sei beschlossen, offen seien noch der Zeitpunkt und das Wie.

Nur ein Rückkommen auf einen entsprechenden Entscheid des Kantonsparlamentes könne die Situation ändern, macht Lardi klar.

Der Bündner Grosse Rat hat letzten August auf Vorschlag der Regierung entschieden, dass ab 2005 alle rätoromanischen Lehrmittel in Rumantsch Grischun gedruckt werden. Zudem wurde die Regierung beauftragt, ein Konzept zur Einführung der Schriftsprache in den Schulen zu entwerfen.

Eigenmächtiges Vorpreschen

Über Erziehungsdirektor Lardi hat sich in der Folge ein heftiges Protestgewitter entladen. Ihm wird vorgeworfen, das Rumantsch Grischun per Dekret, zu schnell und ohne Rücksicht auf regionale Befindlichkeiten in die Schulen zu tragen. Die Schriftsprache werde die fünf regionalen Idiome verdrängen, wird befürchtet.

Der Entscheid habe einmal fallen müssen, kontert Lardi und betont, die Idiome, die wegen eigener grammatikalischer Regeln mehr sind als Dialekte, spielten auch künftig eine wichtige Rolle als Umgangssprachen im Alltag.

Noch 60’000

«Was wir tun, ist zu Gunsten des Rätoromanischen», betont der Erziehungsdirektor. Massnahmen seien unabdingbar. Den Ernst der Lage haben auch die Rätoromanen erkannt.

Die Lia Rumantscha (LR), die Dachorganisation der rätoromanischen Sprachverbände, will wegen des Erosionsprozesses sofort massiv mehr Geld zur Spracherhaltung.



Dieser Erosionsprozess setzt sich unerbittlich fort. 60’000 Personen gaben das Rätoromanische bei der letzten Volkszählung noch als Hauptsprache an, 5000 weniger als 1990.

Die Alarmlampen leuchten aber schon lange. 1982 stellte der inzwischen verstorbene Zürcher Romanistik-Professor Heinrich Schmid im Auftrag der Lia Rumantscha Richtlinien für eine rätoromanische Schriftsprache vor. Das Rumantsch Grischun war geboren. Es sollte Überlebenshilfe für das Romanische sein.

Trotz allem eine «Erfolgsgeschichte»

Bernhard Cathomas, Direktor des rätoromanischen Radios und Fernsehens in Chur, war damals LR-Geschäftsführer und die treibende Kraft für eine überregionale Schriftsprache.

Den gegenwärtigen Kampf verfolgt er mit «Gelassenheit» und spricht im Zusammenhang mit der Einheitssprache trotz allem von einer «Erfolgsgeschichte».

In keinem anderen Idiom werde so viel publiziert wie in Rumantsch Grischun, das sei «phänomenal», sagt Cathomas. Im romanischen Radio wie im Fernsehen soll die Schriftsprache bald vermehrt eingesetzt werden.

Bern als Tempomacher

Der Bund war Schrittmacher und benutzt das Rumantsch Grischun seit 1986 als offizielle Amtssprache. In Graubünden wurde die Schriftsprache ab 1996 zur teilweisen, ab 2001 neben Deutsch und Italienisch zur vollwertigen Amtssprache aufgewertet.

Cathomas glaubt indes nicht, dass sich Rumantsch Grischun demächst in den Schulstuben etabliert. Die Zeit sei noch nicht reif.

Dem Kampf um die Schriftsprache gewinnt er aber durchwegs positive Seiten ab: «Emotionalität löst Engagement aus. Rumantsch Grischun regt nicht nur auf, sondern auch an.»

Keine Alternative

Laut Vincent Augustin, Präsident der Lia Rumantscha und christlichdemokratischer Kantonsrat aus Chur, sind die aktuellen Auseinandersetzungen nicht mit früheren zu vergleichen.

Die Ablehnung des Rumantsch Grischuns sei nicht mehr fundamental, sondern geprägt von der Angst um den Verlust der Idiome.

Deshalb fordert die LR mehr Zeit sowie schulische Pilotprojekte. Dadurch, so Augustin, gewinne die Schriftsprache an Tiefe und Breite. Sich dabei zu stark auf eine Zeitachse festzulegen, sei letztlich kontraproduktiv.

Eine Alternative zu Rumantsch Grischun ist nicht in Sicht. Gemäss einer Mitte der 90er-Jahre durchgeführten wissenschaftlichen Befragung befürwortet eine Mehrheit der Rätoromaninnen und Rätoromanen eine gemeinsame Schriftsprache. Zwei Drittel sprachen sich für das Rumantsch Grischun aus.

swissinfo, Ruedi Lämmler, sda

Rumantsch Grischun wurde 1982 geschaffen.
Im Jahr 2000 bezeichneten sich 60’000 Personen als rätoromanisch sprechend.
1990 waren es noch 65’000.
Davon lebten 40’000 im Kanton Graubünden.
Total zählt der Kanton 187’000 Menschen.

Rumantsch Grischun ist seit 1986 eine der Amtssprachen des Bundes.

Es wurde 1982 als einheitliche Schriftsprache der Rätoromanen geschaffen, weil die Zahl der rätoromanisch sprechenden Schweizer stetig zurückging.

Nach einem politischen Beschluss sollen die Bündner Schüler ab 2005 Rumantsch lernen.

Kritiker befürchten, dies könnte den Todesstoss für die fünf rätoromanischen Idiome bedeuten.

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