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«Strafrecht kann den Geist nicht bestrafen»

Dieudonné, ein Komiker, der polarisiert. AFP

Der umstrittene französische Komiker Dieudonné wird die Schweizer Gerichte vermutlich nicht beschäftigen, wenn er hierzulande auftreten will. Die Stadt Nyon in der Nähe von Genf will das Spektakel des Humoristen, dem Antisemitismus vorgeworfen wird, Anfang Februar nicht verbieten. Die Schweizer Rechtsprechung scheint ihm gütig gesinnt.

Für den bekannten Genfer Anwalt Marc Bonnant, unter anderem Kenner der Theaterszene, sind die rassistischen Bemerkungen und Reaktionen des Komikers Dieudonné M’Bala M’Bala im Internet objektiv gesehen inakzeptabel.

Doch kann man deswegen, wie der französische Innenminister Manuel Valls verlangt hat, sein neues Programm «Le Mur» (die Mauer) verbieten, auch wenn noch nicht bekannt ist, was genau dessen Inhalt ist?

Frankreichs Oberstes Verwaltungsgericht hat den

Tourauftakt der Show «Die Mauer» des als antisemitisch kritisierten Komikers Dieudonné gestoppt.

Die Richter verboten die am Abend des 9. Januars 2014 in der

westfranzösischen Stadt Nantes geplante Show des 47-Jährigen.

Die Richter begründeten ihre Entscheidung mit dem Risiko einer Störung der öffentlichen Ordnung.

Zuvor hatte ein Verwaltungsgericht in Nantes ein Showverbot der Präfektur aufgehoben. Die Menschenwürde werde mit dem Programm nicht grundsätzlich untergraben, urteilte dieses Gericht. Das Innenministerium zog sofort vor das Oberste Verwaltungsgericht.

Die Regierung versucht in jüngster Zeit verstärkt, gegen den Provokateur vorzugehen.

Auch wenn die antisemitischen und rassistischen Äusserungen Dieudonnés in der politischen Klasse und den Medien breit verurteilt wurden, hat das «vorauseilende Verbot» seiner Shows, von einigen als «Zensur» kritisiert, zu einer Debatte und Unbehagen in Frankreich geführt, auch in antirassistischen Organisationen und bei einer Mehrheit der politischen Linken.

In der Vergangenheit haben ein gutes Dutzend Gemeinden versucht, seine Auftritte zu verbieten, doch die Verwaltungsgerichte gaben ihnen jedes Mal im Namen der Redefreiheit Unrecht.

Dieudonné, der bereits neun Mal wegen verbalen Entgleisungen verurteilt wurde, weigert sich, die insgesamt 65’000 Euro Bussgelder zu bezahlen und riskiert damit theoretisch eine Gefängnisstrafe.

(Quellen: DPA, AFP)

Für den Genfer Juristen geht es dabei erst einmal um den eigentlichen Begriff der Redefreiheit: «Man sagt über diese Show, dass sie schädlich sei, dies aber nicht auf Grund einer Feststellung, sondern nur wegen Befürchtungen oder Gerüchten», erklärt er.

«Sie zu verbieten, wäre praktisch die Bestrafung eines Gedankens, von dem angenommen wird, dass er schlecht ist. Nun aber kann das Strafrecht den Geist nicht bestrafen. Es ist da, um Handlungen zu bestrafen. Wir haben in der Schweiz, wie auch in anderen europäischen Ländern, Gesetze, die den Rassismus verurteilen. Das Strafverfahren existiert also. Es kommt aber erst nach Ausübung eines Delikts zur Anwendung.»

Nicht die Rolle der Justiz einnehmen

In Nyon, einer kleinen Waadtländer Stadt mit 20’000 Einwohnerinnen und Einwohnern, soll «Le Mur» vom 3. bis 5. Februar im Theater von Marens gezeigt werden. Olivier Mayor, Kulturbeauftragter von Nyon, will das bereits vollständig ausverkaufte Spektakel nicht verbieten.

«Dies aus drei Gründen», sagt er. «Erstens würde dies Dieudonné zum Märtyrer machen und ihm zu toller Publizität verhelfen. Zweitens will ich mich nicht in die Verträge einmischen, die den Festivals, Verbänden oder unabhängigen Produzenten die Miete des Saals erlauben. Und schliesslich will ich nicht die Rolle der Schweizer Justiz einnehmen, die bereits über Dieudonné entschieden hat.»

In diesem Zusammenhang gilt es zu erwähnen, dass das Bundesgericht die Stadt Genf 2009 getadelt hat, weil sie dem französischen Humoristen das Mieten des Alhambra-Saals nicht gestattet hatte.

Anders gesagt hatte das Bundesgericht das Auftrittsverbot untersagt und damit der Redefreiheit Vorrang gegeben. «Doch die Stadt hatte sich nicht einschüchtern lassen», sagt Patrice Mugny, ehemaliger Vorsteher der Kulturabteilung der Stadt Genf. «Auch wenn wir eine hohe Busse riskierten, hatten wir uns damals versprochen, Dieudonné nie mehr in unserer Stadt auftreten zu lassen. Sicher nicht nach dem, was 2004 geschehen ist.»

Dieudonnés Entschuldigung

2004 war Dieudonné wegen Bemerkungen in der französischen Presse ebenfalls Antisemitismus vorgeworfen worden. Genf, wo er damals sein Soloprogramm «Le divorce de Patrick» zeigen sollte, fragte sich im Vorfeld, ob es nicht besser wäre, das Spektakel abzusagen. Schliesslich willigte die Stadt ein, nachdem sich der Komiker bei der jüdischen Gemeinschaft entschuldigt hatte.

«Seine Entschuldigung brachte nichts, denn Dieudonné hat genau gleich weitergemacht», so Mugny. «Was heute geschieht, beweist, dass dies eine ewige Debatte ist, in der immer wieder die Frage der Redefreiheit aufgeworfen wird. Ich hege überhaupt keine Sympathien für diesen Komiker, doch man kann nicht allen Provokateuren auf dieser Welt eine Ohrfeige erteilen. Schliesslich werden immer wieder Neue aus der Asche aufsteigen.»

Der französische Komiker Dieudonné M’Bala M’Bala ist 1966 in Frankreich als Sohn einer Französin und eines Kameruners zur Welt gekommen.

Der Humorist und Aktivist ist vor etwa 10 Jahren in ein Universum abgeschwenkt, in dem sich Leugner und Extremisten tummeln.

Seine Karriere allerdings hatte er gemeinsam mit dem jüdischen Humoristen Elie Semoun begonnen. Das Duo feierte in den 1990er-Jahren einen raschen Erfolg.

«Auslöser» für seinen Gesinnungswandel ist laut eigenen Angaben 1995 der Mord von Rechtsextremen an einem von den Komoren stammenden Franzosen.

1997 stellt er sich bei einer Parlamentswahl gegen den rechtsextremen Front National.

Bei den Präsidentschaftswahlen 2002 will er sich als Kandidat präsentieren, gibt aber schliesslich wegen mangelnder Unterstützung auf.

In der Zwischenzeit schockiert er mit Aussagen in der Presse. 2002 erklärt er, «Juden» bildeten «eine Sekte, eine Betrügerei», und Osama Bin Laden «»inspiriert Respekt».

Dieudonné pflegt besondere Freundschaften: Mit dem Holocaustleugner Robert Faurisson, dem rechtsextremen Essayist Alain Soral, dem venezolanischen «Carlos», der wegen Attentaten in Paris lebenslang hinter Gitter bleibt, oder dem iranischen Ex-Präsidenten Mahmud Ahmadinedschad (Iran hat seinen Film «L’Antisémite» mitfinanziert).

Der Gründer des Front National, Jean-Marie Le Pen, wird 2008 Pate seines dritten Kindes.

Im Jahr darauf steht Dieudonné einer antizionistischen Liste für die Europawahl vor. Zu diesem Zeitpunkt führt er die «Quenelle» ein, die man als Geste gegen das System, aber auch als umgekehrten Hitlergruss lesen kann.

(Quelle: AFP)

Die grosse Aufregung, die «Le Mur» in Frankreich provoziert, zeigt laut Marc Bonnant die gegenwärtigen Schwächen der dortigen Regierung auf. «Was die französischen Behörden antreibt, ist einerseits ein Blick von oben herab wie auch eine politische Notwendigkeit», kritisiert der Anwalt.

«Sie verfügen heute zwar über die Mittel der moralischen Empörung, doch ihnen fehlen politisch die Energie und die Möglichkeiten. Die Tragweite dieses Phänomens geht weit über die Notwendigkeit hinaus, die republikanischen Werte einzuhalten. Im Grunde stellt dieser Komiker für die Regierung eine Möglichkeit dar, ihr zuzustimmen. Solange sie über Dieudonné spricht, muss sie die wahren Probleme nicht angehen.»

«Beruhigte Demokratie»

Die Schweiz und Frankreich: Zwei Länder, zwei verschiedene Konzepte der Freiheit. Frankreich, das die Freiheit gewissenhaft verteidigt, «bildet sich ein, sie erfunden zu haben», sagt Bonnant. «Doch es übt eine sehr gemässigte Praxis aus. Muss es sich vielleicht für etwas entschuldigen, das man durch seine politische Vergangenheit erklären kann?», fragt er.

«Nicht nur büsst Frankreich weiterhin für seine Sünden, sondern es zeigt auch Beweise für seine Reue: Einerseits, indem es Menschen, die durch die Geschichte verletzt wurden, neue Kraft gibt. Andererseits durch die Aufrechterhaltung des moralischen Diskurses, bei dem es darum geht, das Gute zu bestärken, um das Böse – von dem man annimmt, es begangen zu haben – auf Distanz zu halten.»

Was die Schweiz angehe, so habe diese auch nicht die Menschenrechte erfunden, gibt der Anwalt zu bedenken. «Ihre Haltung gegenüber dem Dritten Reich war alles andere als vorbildlich. Doch die Schweiz ist heute eine ruhige und ausgeglichene Demokratie. Ihre Politikerinnen und Politiker stehen nicht im ewigen Kampf um die Gunst der Wählerschaft. Die Freiheit der Schweiz findet sich in dieser Beruhigung.»

(Übertragen aus dem Französischen: Christian Raaflaub)

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