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Streitpunkt Islam und Menschenrechte

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Es gibt gewisse Widersprüche zwischen islamischem Recht und den Menschenrechten. Das ist das Fazit des Seminars, das an der Universität Bern über Frauen- und Mädchenrechte im Islam durchgeführt wurde.

«Es darf bei den Menschenrechten keine Zweiklassengesellschaft geben. Sie gelten nicht nur für den Westen», sagt Walter Kälin, Professor für Staats- und Völkerrecht an der Universität Bern und Sonderbeauftragter des Uno-Generalsekretärs für intern Vertriebene.

Im Zentrum des Seminars, das am Internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen vom «Geneva Institute for Human Rights» und dem Institut für öffentliches Recht der Universität Bern organisiert wurde, standen folgende Fragen: Inwiefern tangiert der Islam die Rechte der Frauen? Stimmt islamisches Recht mit den internationalen Menschenrechten überein?

«Modernisierung heisst nicht Verwestlichung»

Die Grundsätze der Menschenrechte wie Gleichheit, Freiheit, Gerechtigkeit, Respekt stimmen mit dem Islam überein. Es gebe aber Widersprüche zwischen den universellen Menschenrechten und der starren Auslegung des Islamischen Rechts», sagt Al Sadig Al Mahdi, Imam und ehemaliger Ministerpräsident von Sudan.

Der Koran müsse weiter gefasst werden, sagt er. Al Mahdi plädiert für eine Modernisierung, die auf islamischen Referenzen basiert: «Modernisierung heisst nicht Verwestlichung.»

Am Seminar wird wiederholt die Schwierigkeit angesprochen, gegen die konservativen Kräfte anzukämpfen, die eine idealisierte Vergangenheit propagieren. «Was vor 1000 Jahren Sinn machte, ist heute nicht mehr unbedingt sinnvoll», sagt die ägyptische Professorin für islamische Philosophie, Zeinab Radwan.

«Mentalität ändern»

Al Mahdi verurteilt auch die Despoten-Kultur, in welcher die Menschen unterdrückt würden und die jeglicher Modernisierung entgegenstehen.

«Bevor man das Gesetz ändert, muss man die Mentalität ändern», sagt Radwan. «Der Wunsch nach Veränderung muss von den Frauen, von der Gesellschaft kommen.» Sie forderte denn auch, dass mehr Frauen im Parlament Einfluss nehmen können.

Schleier-Debatte

Die Diskussionsteilnehmer waren sich darüber einig, dass der Dialog im Zentrum stehen müsse. Einstimmigkeit bestand auch darüber, dass Kinderheirat und Genitalverstümmelung nicht dem Islam entsprächen und zu verurteilen seien.

Unterschiedliche Ansichten wurden jedoch etwa beim Einfluss des Korans auf das Leben der Frauen und der Schleier-Frage deutlich.

«Ist der Islam nicht einfach ein gesellschaftliches Kontrollmittel», fragte eine Indonesierin aus dem Publikum. Sie wisse nicht, wie der Koran in Indonesien gelebt werde, sagte Radwan nur: «Frauen müssen ihre Rechte ausüben. Wer seines Rechts nicht bewusst ist, ist automatisch schwächer.»

Eine andere Frau aus dem Publikum sah im Gebot des Schleiertragens eine Reduktion der Frau zum sexuellen Objekt. «Die Frauen müssen verstehen, dass die Männer in Bezug auf die sexuelle Versuchung das schwächere Geschlecht sind», sagte Imam Al Mahdi, und verteidigte damit die Notwendigkeit des Schleiers.

Toleranz auf dem Spiel

Der Islam wird durch die Migration auch in europäischen Gesellschaften zu einer der führenden Religionen.

«Die Menschen verlieren ihre Wurzeln nie», sagt Al Mahdi. Die Muslime im Westen hätten Pflichten, aber es sei auch wichtig, dass ihre Identität respektiert werde.

«Nimmt man die Traditionen von Einwanderern ernst, trägt das zur Integration bei. Bei der psychischen und physischen Integrität, bei der Herabwürdigung von Frauen, gibt es jedoch Grenzen der Toleranz», sagt Walter Kälin gegenüber swissinfo.

Das Bundesgericht hat sich kürzlich dagegen ausgesprochen, zwei muslimische Schüler vom Schwimmunterricht zu dispensieren. Für Walter Kälin bedeutet dieser Entscheid, dass es keine Spielräume mehr gibt für Verhalten, das der Mehrheit der Bevölkerung unverständlich erscheint.

«Wird dieser neue Ansatz des Bundesgerichts nicht mit sehr viel Zurückhaltung und Klugheit angewendet, besteht die Gefahr, dass wir an gesellschaftlicher Toleranz verlieren, die unser Land geprägt hat», sagt Walter Kälin.

Um die Integration anderer Religionen zu unterstützen, brauche es diesbezüglich vor allem Einzelfallentscheide und Güterabwägungen.

swissinfo, Corinne Buchser

In der Schweiz leben rund 340’000 Muslime.

Rund 12% sind Schweizer Staatsbürger.

Die meisten Muslime in der Schweiz kommen aus Südosteuropa, auch in der Folge des Jugoslawien-Kriegs, oder aus der Türkei.

Ihre Zahl hat in den letzten Jahren zugenommen. Ihr Anteil an der Bevölkerung stieg von 2,2% 1990 auf 4,3% im Jahr 2000.

In der Schweiz sind drei Viertel der Bevölkerung Christen. Davon sind 42% Katholiken, 35% Protestanten und 2,2% andere christliche Bekenntnisse.

Das Bundesgericht hat seine Rechtssprechungspraxis geändert: Schulbehörden dürfen eine Dispensation vom Schwimmunterricht aus religiösen Gründen verweigern.

Die Bundesrichter wiesen im Oktober 2008 die Beschwerde eines muslimischen Elternpaars ab, welches ihre beiden Söhne vom gemischtgeschlechtlichen Schwimmunterricht befreien wollte.

Das Schweizerische Bundesgericht stellte bei seinem Entscheid die Integration vor die Glaubens- und Gewissensfreiheit.

Im Jahre 1993 hatte das Bundesgericht die Beschwerde eines muslimischen Vaters noch gutgeheissen, der seine Tochter vom Schwimmunterricht aus religiösen Gründen dispensieren wollte.

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