Tell in Altdorf: urchig und emotional
Mit Leib und Seele, viel Herzblut und Emotionen bringt das Laienensemble des Altdorfer Tellspielhauses Schillers "Wilhelm Tell" auf die Bühne.
Damit hat das Volk von Uri mit seiner eigenen kraftvollen Interpretation der vor 200 Jahren erfolgten Uraufführung in Weimar gedacht.
Die Schauspieler der Tellspiele Altdorf, eine Laiengruppe unter der professionellen Führung des Regisseurs und Dramaturgen Louis Naef, braucht sich nicht hinter professionellen Theatertruppen zu verstecken. Was den Schauspielerinnen und Schauspielern an Erfahrung und Ausbildung abgeht, machen sie mit Eifer, Engagement und totalem Einsatz wieder wett.
Louis Naefs Interpretation des Schillerschen Stoffes spielt nicht im ausgehenden Mittelalter. Die Kostüme der Darsteller zielen auf die Entstehungszeit des Schauspiels, das ganz frühe 19. Jahrhundert, als Napoleon über die Schweiz herrschte. Das ist soweit ganz in Ordnung.
Eigenartig wirkt es dagegen, wenn sich ein Jägersmann mit einer Flinte auf dem Rücken auf der Bühne produziert. Solche Feuerwaffen existierten im 13. Jahrhundert nun wirklich noch nicht. Wilhelm Tell selbst wurde glücklicherweise nicht so modern ausgerüstet: Er darf, wie es sich gehört, seine Armbrust verwenden, um Apfel und Gessler präzise zu treffen.
Geniales Bühnenbild und starke Frauen
Erstaunlich, wie es Naef gelingt, die hehre Bergwelt, den einerseits zum Baden ladenden See, das vom Sturm gepeitschte Wasser, Stauffachers Haus von aussen, Attinghausens Heim von innen, den Dorfplatz von Altdorf mit Gesslers Hut, die Hohle Gasse und die Rütli-Wiese auf die kleine Bühne zu pferchen.
Er zaubert stimmungsvolle Kulissen aus auf Rollen leicht verschiebbaren Baugerüsten und ein paar einfachen Landschafts- und Teppichbildern.
Inmitten dieser sparsam eingesetzten Bühnendekoration erzeugen die Darstellerinnen und Darsteller eine ungemein dichte, persönliche Atmosphäre. Dazu tragen insbesondere die Frauen bei, die im Originalschauspiel nicht mit allzu vielen Rollen bedacht werden.
Naef präsentiert eine geniale Lösung: Er hat einen Frauenchor erfunden, der wichtige Textpassagen mit der Kraft der vereinten Frauenstimmen aufwertet und ihnen eine besondere Bedeutung gibt.
Für Naef ist das kein Bruch mit dem Originalstoff: «Wenn man den Text genau liest, und das habe ich getan, sieht man, Schiller hat das so angelegt.» Die Männer, meint Naef, zögern immer, sie palavern, überlegen hin und her. Die Frauen aber, und das beginne bei der Stauffacherin, «tun etwas dafür, damit etwas passiert».
Er wollte aus dem Tell ein heutiges, aktuelles Stück machen. «Deshalb habe ich daraus ein Frauenstück gemacht.»
Grobschlächtige, handfeste Männer
Bei den Männer geht es hin und wieder derb zu. Bevor der Rütlischwur stattfindet, geraten sich die Urner, Schwyzer und Unterwaldner in die Haare, es gibt beinahe eine Massen-Rauferei. Zum Schluss aber, und damit nimmt Naef auf die Politkultur der Schweiz Bezug, zum Schluss verträgt man sich und macht Realpolitik.
«Jetzt muess i öppis z’süffe ha!» (Jetzt brauche ich etwas zu trinken), ruft da einer nach dem Schwur. Auch dies ein Bezug, der sich bis in die heutige Realität fortsetzt: Man geht in die Beiz (die Kneipe) und begiesst eine zustande gekommene Lösung.
Urner Volkskultur im Einsatz
Nach Gesslers Tod frohlocken und tanzen die drei Waldstätte zu einem Fasnachtsmarsch. Damit will man die sieben Tage Anarchie, die jeweils während der «verrückten» Tage im Urnerland herrschen, auf die Bühne bringen, erklärt Adrian Zurfluh, Mediensprecher der Altdorfer Tellspiele.
Der Regisseur sei damit auf das Urnervolk eingegangen. Er habe gemerkt, was den Urnern am Herzen liege, so Zurfluh weiter und: «Mit Louis Naef haben wir einen gefunden, der uns die Stange hält».
Begeisterung und Anerkennung
Für die Präsidentin der Rütli-Kommission, Judith Stamm, Nationalratspräsidentin von 1996/97, war die Aufführung «werkgetreu». Gegenüber dem Original musste der Text natürlich gekürzt werden. Dies sei den Verantwortlichen sehr gut gelungen. «Die Sachen, die gesagt werden mussten, wurden auch gesagt», ist Judith Stamm überzeugt.
Auch der heutige Nationalratspräsident Max Binder, selbst Laienschauspieler, lobt die Leistung des Ensembles. Die Darsteller hätten unheimlich viel Emotionen, Engagement und Liebe zum Detail gezeigt. «Chapeau! Eine Vorstellung von höchster Perfektion!»
Laienakteur Binders Traum: «Einmal den Tell spielen!» Würde er diese Rolle lieber auf dem Rütli mit dem Weimarer Nationaltheater oder hier in Altdorf auf die Bühne bringen? «Ich würde ihn dort spielen, wo man mich engagieren würde.»
Sprachenwirrwar
Die Sprache erhält bei der Altdorfer Aufführung eine besondere Bedeutung. Das Volk spricht untereinander und in emotionalen Momenten Dialekt. Bei der Politik, beim Lavieren und selbstverständlich bei Gessler, dem fremden Vogt, sollte die Hochsprache zum Einsatz kommen.
Barbara Piatti, Autorin des Buches «Tells Theater» gab der Umgang mit den Sprachen, wie anderen Premierenbesuchern auch, Rätsel auf: «Mir wurde die Dramaturgie des Wechsels zwischen Hochsprache und Mundart nie ganz klar.»
Sonst zeigt sich die Schriftstellerin begeistert. Sie sieht «unendlich viele Überlegungen und Arbeit», welche «die Emotionen, die Verwirrung der Menschen, die Hilflosigkeit Gessler gegenüber vorzüglich zum Ausdruck bringen».
Gassenhauer
Den Zuschauerinnen und Zuschauern dauert die gut zweistündige Vorführung nicht zu lange. Der Tell-Stoff ist hier ein Volks-Stück, ein Gassenhauer. Dies gilt ganz besonders für die Schluss-Szene: Tell Vater und Sohn nehmen die Pose des Altdorfer Telldenkmals ein, das Volk jubelt, die Dankesworte der adeligen Bertha von Bruneck werden in der laut hallenden Nationalhymne quasi «ertränkt». Das Volk hat jetzt das Sagen!
Solch ein Pathos würde ich einer professionellen Schauspielertruppe nie und nimmer abnehmen. Aber hier passt es!
swissinfo, Etienne Strebel in Altdorf
Wilhelm Tell von der Tellspiel- und Theatergesellschaft Altdorf.
Vorstellungen meist am Mittwoch, Freitag, Samstag und Sonntag.
Letzte Vorstellung: 16. Oktober 2004.
Eintrittspreise zwischen 37 und 49 Franken.
1512: In Altdorf findet die erste bekannte Tell-Aufführung statt: «Ein hübsch Spyl gehalten zu Uri in der Eidgenossenschaft von dem frommen und ersten Eidgenossen Wilhelm Tell genannt.»
25. Juni 1899: Erste Aufführung von Schillers «Wilhelm Tell» durch den «Verein für Tellaufführungen» im eigens dafür aus Holz erbauten «Tellspielhaus».
1915: Das alte Tellspielhaus wird abgebrochen
1925: Das neue Tellspielhaus wird eingeweiht. Das eigens für die Darstellung von Schillers «Wilhelm Tell» erbaute Spielhaus mit rund 1000 Plätzen weist eine Bühne mit einer Fläche von 15 m x 12 m auf.
1974-1976: Umfassende Gebäude-Renovation
2004: Louis Naefs Neu-Inszenierung.
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